So will ich schweigen
Stiefmutter, wie?«, fragte er Kit und zog anerkennend die Augenbrauen hoch.
»Ja«, antwortete Kit knapp. Nicht nur, dass er keine Lust verspürte, Leo seine komplizierten Familienverhältnisse zu erklären – er wollte auch Gemma in Schutz nehmen. Leos anzügliches Grinsen hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Er wollte gerade hinzusetzen: »Kümmer dich um deinen eigenen Kram«, als sein Blick auf Lallys angespannte Miene fiel. Für ein Mädchen, das behauptet hatte, es sei ihr egal, was ihre Eltern dachten, hatte sie ganz schön viel Schiss, erwischt zu werden.
»Wir sollten besser in die Kirche gehen«, meinte sie. »Wenn wir keine Plätze mehr kriegen, können wir uns echt auf was gefasst machen.«
»Ach was, dir fällt doch bestimmt irgendeine Ausrede ein, was, Lally-Baby?«, meinte Leo mit einem vielsagenden Grinsen. »Du bist doch so gut im Geschichtenerfinden.«
Kit glaubte zu sehen, wie Lallys Gesicht sich als Reaktion auf den Seitenhieb verfinsterte, doch statt einer Antwort lugte sie nur um die Ecke, um zu sehen, ob die Luft rein war, und
zog Kit hinter sich her über den Platz, während Leo hinterhertrottete.
Als sie in der Kirche ankamen, hatten die Reihen sich schon zu füllen begonnen, und Lally fluchte wieder, diesmal allerdings nur halblaut. Während sie den Hals reckte, um nach einer freien Bank Ausschau zu halten, sagte Leo: »Ich mach mich dann mal besser auf die Suche nach meinem Dad. Er erwartet sicher, dass ich mit ihm seine ganzen alten Knacker begrüße und ihnen die gichtigen Flossen schüttle.«
»Leo, das ist eklig«, zischte Lally, doch dann nahm die Platzsuche wieder ihre Aufmerksamkeit in Anspruch.
»Frag doch deinen Alten, ob du morgen zu uns kommen darfst«, fuhr Leo unbeeindruckt fort. »Dann zeigen wir deinem kleinen Cousin hier mal, wie man richtig einen draufmacht.« Mit dieser beunruhigenden Bemerkung war er verschwunden, und Kit hatte ihm stirnrunzelnd nachgesehen, als er in der Menge untergetaucht war.
Jetzt, im klaren Licht des Morgens, schienen die Aussichten auch nicht rosiger. Kit hatte in der Schule genug Erfahrungen mit Jungen wie Leo machen müssen – solche Typen hatten ihm die letzten paar Monate das Leben zur Hölle gemacht. Er wusste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte – eine falsche Bewegung, und Leo würde ihn vor Lally nach Strich und Faden fertigmachen.
Da unterbrach eine schläfrige Stimme seinen Gedankengang. »Ist das Speck?«, fragte Toby, während er seine Decke zurückschlug und sich aufsetzte. Mit seinen zerzausten Haaren sah er aus wie ein kleiner blonder Igel. Jetzt merkte auch Kit, dass er, vertieft in seine trüben Gedanken, schon seit einer ganzen Weile unterschwellig den Geruch von gebratenem Speck wahrgenommen hatte, und wie zur Bestätigung begann sein Magen zu knurren.
Das Haus erwachte zum Leben. Kit konnte jetzt auch Kaffee
riechen, und von unten drang gedämpftes Lachen an sein Ohr. Es war Zeit, aufzustehen und zu sehen, was der Tag zu bieten hatte, und Kit stellte fest, dass er ganz dankbar war, für ein paar Stunden an nichts Komplizierteres als an Geschenke und Essen denken zu müssen.
»Schau mal, Toby«, sagte er, als sein Bruder den Strumpf entdeckte. »Der Weihnachtsmann hat dich ja doch gefunden.«
Zuerst kam das charakteristische dumpfe Brummen eines Dieselmotors, dann das leichte Schaukeln, verursacht von der Bugwelle eines anderen Boots, das durch das Hafenbecken fuhr.
Annie, die auf dem Boot gewöhnlich mit dem Morgengrauen aufwachte, schlug die Augen auf und blinzelte, als das helle Licht im Fenster über ihrer Koje sie blendete. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war, dann aber kam die Erinnerung schlagartig zurück. Es war Weihnachten, und sie war am Abend zuvor sehr spät aus der Mitternachtsmesse in St. Mary ’ s zurückgekommen.
Sie blieb reglos liegen, während sie wartete, bis ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, und genoss einfach nur das überraschende Wohlgefühl, das sie durchströmte. Überrascht stellte sie fest, dass sie zum ersten Mal seit Monaten wieder tief und traumlos geschlafen hatte. Lag es vielleicht am Singen? Wenn ja, sollte sie es vielleicht öfter tun. Als Kind hatte sie Sängerin werden wollen, aber ihre Eltern hatten es nicht für nötig befunden, ihr Talent zu fördern.
Als das Bedürfnis nach Kaffee ihre ungewohnte Trägheit schließlich besiegte, schlug sie die Decke zurück und hüllte sich gleich in mehrere Schichten wärmenden Wollstoffs. Zuerst
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