So will ich schweigen
Falze ausgeleiert. Annie bedeutete ihnen, an einer Seite des Tisches Platz zu nehmen, setzte sich aber nicht zu ihnen, sondern beugte sich über den Tisch, um die Karte auszubreiten und so zu drehen, dass Kincaid und Kit sie lesen konnten. Sie sahen ein Netz aus breiten, verschiedenfarbigen Linien, das sich über ganz Mittelengland zog. Kincaid fand gleich den burgunderfarbenen Strang, der den Shropshire Union Canal darstellte.
Annie folgte seinem Blick und legte den Finger auf den zentralen Abschnitt des »Shroppie«. Von dort zog sie eine Linie nach Norden über Manchester und Leeds, dann wieder nach Süden, entlang der Flüsse Trent und Mersey nach Birmingham und weiter bis London. »Diese Strecke habe ich in den letzten Jahren einige Male zurückgelegt«, sagte sie. »Und den Llangollen bin ich natürlich auch gefahren, nach Wales hinein. Aber irgendwie scheine ich immer wieder zum Ausgangspunkt
zurückzukehren. Ist wohl eine Art Instinkt, wie bei einer Brieftaube.«
»Sie kommen ursprünglich aus dieser Gegend?« Kincaid hatte sich Milch in den Tee gegossen und vorsichtig daran genippt, und allmählich begann die willkommene Wärme ihn von innen her aufzutauen. »Ich dachte mir schon, dass ich da einen leichten Cheshire-Akzent heraushöre.« Als er Annie Lebow im warmen Licht der Kabine betrachtete, stellte er fest, dass sie jünger war, als er sie anfangs geschätzt hatte – vielleicht gerade mal Anfang fünfzig. Gewiss zu jung, um schon in Rente zu sein. Er fragte sich, wie sie sich das Leben, das sie führte, eigentlich leisten konnte – ganz zu schweigen von einem Boot dieser Klasse.
»South Cheshire, in der Nähe von Malpas.« Sie beantwortete seine Frage prompt, sprach dann aber rasch weiter, als ob sie das Thema nicht weiter vertiefen wollte. Während sie mit einem gepflegten Fingernagel auf die Karte tippte, fuhr sie fort: »Es gibt inzwischen so viele Meilen schiffbarer Wasserwege, viel mehr, als man sich vor dreißig oder vierzig Jahren hätte vorstellen können. Damals waren die Kanäle wirklich in einem schlimmen Zustand. Heute sind natürlich in erster Linie Hobbyschiffer unterwegs. Die traditionelle Güterschifffahrt gehört der Vergangenheit an.«
»Ist das denn so schlimm?«, fragte Kincaid, der den bedauernden Ton aus ihren Worten herausgehört hatte. »Es war doch sicher ein entbehrungsreiches Leben, und die Schiffer waren nicht nur arm, sondern auch ungebildet, zum Teil Analphabeten.«
»Ein entbehrungsreiches Leben, aber trotzdem ein gutes Leben«, erwiderte Annie mit plötzlicher Heftigkeit. »Sie hatten ihre Freiheit, und sie hatten den Kanal. Die allerwenigsten hätten das freiwillig aufgegeben.« Dann schüttelte sie den Kopf und lachte, als ob sie ihren Gefühlsausbruch schon wieder bereute.
»Aber Sie haben recht. Und aus meinem Mund muss das auch seltsam klingen, wenn man sieht, wie ich hier lebe.« Sie machte eine Handbewegung, die das ganze Boot mit seiner modernen Einrichtung einschloss. »Man muss sich einmal vorstellen, dass die Wohnfläche für eine ganze Familie gerade mal vier bis fünf Quadratmeter betrug – ein gutes Stück kleiner als mein Salon. Der ganze Rest war für die Fracht reserviert. Und dann stellen Sie sich vor, dass es keinen Strom gab, kein heißes Wasser bis auf das, was man auf dem Herd kochen konnte, keine sanitären Einrichtungen« – hier schenkte sie Kit ein kleines Lächeln – »und keine Kühlschränke; und die Frauen mussten sich nicht nur um die Kinder kümmern, sondern auch ihren Männern an den Schleusen und beim Verladen der Fracht helfen.«
»Kein Bad? Keine Schule? Klingt doch gar nicht so übel«, witzelte Kit.
»Man kann sich sicher an alles gewöhnen. Die Idle Women haben es jedenfalls gekonnt, und die meisten von ihnen kamen aus gutbürgerlichen Familien.«
»›Idle Women‹?«
»Während des Krieges verpflichtete die Regierung Frauen zur Arbeit auf den Kanalbooten. Sie waren natürlich alles andere als träge oder faul – der Spitzname kam von dem Kürzel I. W. auf dem Abzeichen, das sie zum Abschluss ihrer Ausbildung bekamen. Es stand für Inland Waterways . Anfangs wurden sie überall bestaunt, aber es dauerte nicht lange, bis sie sich den Respekt der traditionellen Schiffer erworben hatten. Für viele von ihnen war es eine einmalige Erfahrung.« Wieder hörte er einen Hauch von Nostalgie aus ihrer Rede heraus, doch als sie fortfuhr, wandte sie sich erneut mit einem warmen Lächeln an Kit. »Eine der besten Ausbilderinnen
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