Socken mit Honig
Ihre Schultasche lässt sie, plumps, mitten im
Flur stehen, eine geheimnisvolle Plastiktüte, in der sich die rätselhafte Paula
befindet, wird deutlich pfleglicher behandelt. Sie trägt die Tüte mit beiden
Händen vorsichtig die Treppe hinauf. ‘Sie behandelt diese Tüte wie ein rohes
Ei‘, spukt es mir spontan durch den Kopf. Das muss es sein, die Sache ist klar,
bei Paula handelt es sich um ein Küken, besser gesagt um ein zukünftiges Küken.
Für den Moment bin ich beruhigt, von einem Ei geht zunächst keine Gefahr aus,
besondere Vorsichtsmaßnahmen die Katze betreffend sind ebenfalls nicht zu
ergreifen. Noch nicht.
Beim Mittagessen halte ich meine Neugierde bewusst in Zaum,
frage meine Tochter nicht, was sich die Lehrerin hat einfallen lassen, wie das
funktionieren soll mit den Eiern, dass sie immer die richtige Temperatur haben,
schließlich haben wir keinen Brutschrank. Unmöglich auch, dass sich permanent
jemand auf das Ei setzt, um es zu wärmen, wer sollte die Nachtschicht übernehmen?
Welche Temperatur braucht so ein Ei eigentlich, damit ein Küken heranwachsen
kann? Nein, ich halte mich zurück, es interessiert mich nicht die Bohne, rede
ich mir ein. Ich will meiner Tochter und ihrer Lehrerin vertrauen. Ich will
mich nicht einmischen. Ich will keine Fragen mehr stellen. Ich will mich nicht
wie eine Glucke benehmen, Julia wird es schon alleine richten. Vielmehr
unterhalten wir uns über die Mathestunde, den Sportunterricht und die große
Pause, in der es heute so stark geregnet hat, dass die Kinder nicht auf dem
Pausenhof spielen durften.
Am Nachmittag richtet Julia ein gemütliches zu Hause für
Paula ein. Sie braucht Küchenpapier, eine Gießkanne, ein langes Lineal, besser
noch einen Zollstock. Wir müssen zum Schreibwarenladen, um ein besonders
schönes Heft zu kaufen, das Julia als Tagebuch für Paula verwenden möchte. „Wir
dürfen auch auf normale Blätter schreiben, die wir am Ende in einer Mappe abheften“,
erklärt meine Tochter, „aber ich möchte lieber ein schönes Heft nehmen. Paula
soll etwas ganz Besonderes werden.“ Ich wundere mich ein wenig, dass sie keine
Wärmflasche braucht oder eine Wolldecke. Und wozu soll die Gießkanne gut sein? Ist
das die neue Art des Brütens, das Ei in warmem Wasser baden? ‘Das interessiert
mich nicht die Bohne‘, rufe ich mir erneut in mein Gedächtnis. Aber was soll
das mit dem Zollstock? Wie groß soll das Küken werden? Wir brüten doch kein
Straußenei aus? ‘… nicht die Bohne‘, mahne ich mich wiederum.
Als am Abend mein Mann nach Hause kommt berichtet Julia ihm
als erstes von Paula und ihrer Hausaufgabe. Auch ihm kommt sie geheimnisvoll,
verrät keine Details. Art und Beschaffenheit von Paula bleiben weiterhin unseren
Spekulationen ausgesetzt. Und Spekulationen haben wir reichlich. Wir machen uns
Sorgen um das Wohl des Tieres. Ob wir ihm ein geeignetes Heim bieten können. Ob
sich ein einzelnes Huhn wohlfühlen kann. Ob wir es behalten können. Ob es sich
überhaupt um ein Huhn handelt. Julia betont, dass wir uns keine Gedanken machen
müssen, denn sie würde sich schon um alles kümmern. Paula könnte, sobald es
etwas wärmer wäre, in den Garten umziehen, würde so um die zwei Meter groß
werden und zum Schluss könnten wie sie essen, als Suppe oder so. Bitte? Ein
Suppenhuhn? Zwei Meter? Im Garten? Hier läuft ganz entschieden etwas schief!
„Julia“, werde ich wider aller Vorsätze, mich nicht einzumischen, energisch,
„was in aller Welt züchtest du in deinem Zimmer?“ Auch mein Mann blickt
fordernd, er will Antworten auf Fragen, den Tierschutz betreffend. „Mama,
Papa“, stöhnt unsere Tochter. „Was ihr schon wieder denkt. Frau Weber würde uns
doch keine Tiere züchten lassen. Sie hat selber drei Kinder und weiß schon,
dass Eltern nicht so gerne wollen, dass Kinder Haustiere mitbringen.“
Einleuchtend, das hätte ich mir denken können, Frau Weber ist
verantwortungsvoll. „Aber wer ist dann Paula?“, verlangt mein Mann zu wissen.
Julia zögert kurz, ich merke deutlich, dass sie ihr Geheimnis nicht preisgeben
möchte. Andererseits spürt sie, dass sie uns beruhigen muss. "Frau Weber
hat heute Blumentöpfe und Erde mitgebracht. Dann durfte jeder von uns Samen
einsetzen. Wir wollen Bohnen züchten und sie beim Wachstum beobachten. Damit
wir eine Beziehung zu unseren Bohnen bekommen, durften wir uns jeder einen
Namen für unsere Pflanze aussuchen. Meine Bohne heißt Paula.“ Wir sind
erleichtert. Der einzige Zweifel,
Weitere Kostenlose Bücher