Söhne der Erde 06 - Das Erbe des blauen Planeten
würden. Charru hatte sie selbst eingeteilt und zwei Dutzend freiwillige Meldungen zurückgewiesen, weil er wußte, daß die Betreffenden ohnehin fast ständig auf den Beinen gewesen waren. Dafür blieb ihm dann auch nichts übrig, als sich von Gerinth vorrechnen zu lassen, wie lange er selbst nicht mehr geschlafen hatte. Er protestierte nicht, sondern ließ sich einfach gegen einen der Packsäcke mit dem Nahrungskonzentrat sinken. Zum erstenmal seit einer halben Ewigkeit konnten sie sich sicher fühlen. Charru spürte mit jeder Faser, wie die Spannung in ihm nachließ, spürte die lähmende, unbezwingliche Müdigkeit, und das Bewußtsein, daß nichts ihn hinderte, diese Müdigkeit nachzugeben, machte ihn für Sekunden fast schwindlig vor Erleichterung.
Er fiel in einen bleischweren, traumlosen Schlaf, der fast einer Bewußtlosigkeit glich. Einmal schrak er hoch, weil seine geschärften Sinne Bewegung wahrgenommen hatten. Er hob die Lider, hellwach von einer Sekunde zur anderen. Camelo, der von seiner Wache zurückgekommen war, lächelte ihm zu. Charru lauschte auf die tiefen Atemzüge ringsum, genoß für ein paar Augenblicke das lange entbehrte Gefühl von Frieden und Entspannung, dann war er schon wieder eingeschlafen.
Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er das nächste Mal erwachte.
Auch diesmal wurde sein Bewußtsein mit einem leichten, alle Nervenfasern durchzuckenden Schock lebendig: das jähe Erwachen des Steppenbewohners, der mit der Gefahr lebt und dessen Sinne auch im Schlaf nie ganz abstumpfen. Er blieb reglos liegen und lauschte. Neben ihm rührte sich Camelo im Schlaf, atmete tief und lag dann wieder still. Auch auf der anderen Seite des Raums entstand flüchtige Unruhe. Fast alle Tiefland-Krieger besaßen das gleiche scharfe Gespür für Gefahren. Ein paar von ihnen waren ganz sicher wach geworden, doch vermutlich glaubten sie, zurückkehrende Posten gehört zu haben.
Charru wehrte sich gegen die Müdigkeit.
War da nicht ein Geräusch gewesen. Ein fast unhörbares Schleifen, als streife Stoff über eine Wand? Er öffnete die Augen. Ein tief verwurzelter, in Jahren des Kampfes gewachsener, von der Verantwortung geschärfter Instinkt hatte ihn gewarnt, hatte ihm gesagt, daß irgend etwas nicht stimmte. Vorsichtig, um niemanden zu wecken, richtete er sich auf, stützte sich auf den Ellenbogen und sah sich in dem großen, von warmem Licht erfüllten Raum um.
Nichts rührte sich.
Einer der Nordmänner schnarchte rhythmisch, ein Kind stöhnte im Schlaf. Dann entdeckte Charru den Schatten zwischen den goldfarbenen Pfeilern.
Eine schmale Gestalt huschte auf den Tunnel zu, der tiefer in das Labyrinth führte.
Wieder schleifte Stoff: die lange, halb zerfetzte Kutte eines Akolythen. Lautlos richtete sich Charru noch ein Stück weiter auf, kniff die Augen zusammen, und im nächsten Moment konnte er das blasse Profil des jungen Dayel erkennen.
Langsam, wie von unsichtbaren Fäden gezogen verschwand der Akolyth in dem leuchtenden Tunnel.
Sein Gesicht hatte Charru nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen, doch er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Junge kaum richtig bei Bewußtsein war. Jetzt hob er sich nur noch als dunkler Umriß im goldenen Licht des Ganges ab. Geschmeidig kam Charru auf die Füße, warf einen prüfenden Blick in die Runde und glitt dann an den schlafenden Menschen vorbei ebenfalls auf den Tunnel zu.
Dayel hatte einen der Kreuzungspunkte erreicht und wandte sich ohne das geringste Zögern nach rechts.
Charru folgte ihm. Der Junge ging langsam, mit eigentümlich verzögerten Bewegungen, doch er sah sich nicht um und bemerkte nicht, daß jemand hinter ihm war. Zweimal wechselte er die Richtung, mit ausgestreckten Händen wie ein Schlafwandler. Beim zweiten Mal konnte Charru erkennen, daß die Augen in dem bleichen Gesicht weit geöffnet waren und eigentümlich blicklos ins Leere starrten.
Hatte Dayel geträumt?
Von jenen seltsamen »Unsichtbaren«, von denen er phantasiert hatte? War es möglich, daß er geglaubt hatte, wieder allein in dem unheimlichen Labyrinth herumzuirren? Und versuchte er jetzt vielleicht, in Halbschlaf oder Trance den Weg wiederzufinden, den er schon einmal gegangen war?
Charrus Blick hing gebannt an der schmalen Gestalt in der zerrissenen Kutte.
Dayel folgte jetzt einem der breiten Tunnel, die zu jenem Raum führten, den Helder Kerr zunächst für eine Computer-Zentrale gehalten hatte. Der Akolyth ging langsam, als zähle er
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