Söhne der Erde 06 - Das Erbe des blauen Planeten
seine Schritte. Schließlich blieb er abrupt auf dem Gang stehen.
Zwei flache Nischen lagen links und rechts von ihm.
Er wandte sich nach rechts. Zögernd, mit leicht geneigtem Kopf verharrte er vor der schimmernden Wand. Charru runzelte die Stirn. Bisher hatte er geglaubt, daß sich in dem Labyrinth vielleicht auch Fahrzeuge bewegen konnten, und die beiden Nischen für eine Art Ausweichstelle gehalten. Jetzt begriff er ihren wirklichen Zweck. Dayel machte noch einen unsicheren Schritt nach vorn und berührte die goldfarbene Wand mit ausgestreckten Händen.
Sie glitt auseinander.
Lautlos öffnete sich eine verborgene Tür. Dayel machte einen weiteren Schritt - und dann prallte er zurück, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.
Als er langsam zurückwich, konnte Charru sein Gesicht sehen.
Ein verzerrtes, verzweifeltes Gesicht. In den Augen, die eben noch ausdruckslos gewesen waren, erwachte jäh die Angst. Von einer Sekunde zur anderen war der Junge wie verwandelt. Scharf sog er den Atem ein, und als er diesmal die Arme hob, geschah es in einer Geste blinder Abwehr.
»Dayel!«
Charru hatte die Szene reglos verfolgt, jetzt setzte er sich wieder in Bewegung. Mit vier, fünf Schritten erreichte er die schwankende Gestalt in der Akolythen-Robe. Dayel fuhr herum. Seine Augen flackerten, der unvermutete Anblick des anderen weckte neue Angst. Taumelnd wich er zurück, preßte sich mit dem Rücken gegen die Wand und starrte den Fürsten von Mornag an, als erwarte er jeden Moment, daß der das Schwert ziehen würde, um ihn zu durchbohren.
»Ruhig«, sagte Charru eindringlich. »Du brauchst keine Angst zu haben. Hast du geträumt?«
Dayel schluckte krampfhaft. Sein Blick zuckte hin und her. In diesen Sekunden wirkte er wie ein verängstigtes Kind.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, wiederholte Charru.
»Niemand wird dir etwas tun. Hat Mircea Shar nicht mit dir gesprochen?«
Dayels Lippen zitterten. »Doch ...aber...«
»Du glaubst ihm nicht? Wirst du mir glauben, wenn ich dir mein Wort gebe, daß er die Wahrheit gesagt hat?«
Dayel nickte. In die Furcht in seinen Augen mischte sich ein Funke Hoffnung.
»Gut.« Charru lächelte beruhigend. »Dann sag mir jetzt, was du mitten in der Nacht hier suchst.«
»Ich ...ich weiß nicht. Ich habe geträumt ...Es war wie...wie beim erstenmal ...«
»Als du dich hier verirrt hattest?«
Dayel nickte. Seine Hand zitterte, als er sich den Schweiß von der Stirn wischte.
»Du bist den gleichen Weg gegangen?« forschte Charru weiter.
»Ich ...ich weiß nicht ...Ich glaube ja ...Aber irgendwo schien sich plötzlich alles im Kreis zu drehen. Und dann waren sie da. Die Unsichtbaren...«
Charru wandte sich um.
Aus zusammengekniffenen Augen starrte er zu der Nische hinüber. Eine schmale Treppe führte nach unten. Sehr tief nach unten, wie ihm schien.
»Hast du diese Treppe genommen?« fragte er.
»Ich weiß nicht ...Bitte! Ich will nicht da hinuntergehen! Ich habe Angst, ich ...«
»Du brauchst nicht mitzukommen. Willst du auf mich warten, oder glaubst du, daß du allein zu den anderen zurückfindest?«
»Ich warte«, flüsterte Dayel.
Dabei war ihm anzusehen, daß ihm beide Möglichkeiten gleichermaßen furchteinflößend erschienen. Immer noch preßte er sich bleich und zitternd gegen die Wand. Charru ließ ihn nicht gern allein zurück, aber er wollte auch nicht die anderen wecken, ehe feststand, daß es um mehr ging als die Schreckgespenster, die nur in Dayels überreizter Phantasie existierten. Mit kurzem, beruhigendem Druck legte er dem Jungen die Hand auf die Schulter, dann wandte er sich ab und ging auf die Tür zu.
Die Stiege dahinter war steil und so eng, daß keine zwei Mann nebeneinander hätten gehen können. Ein leises Surren ließ Charru den Kopf wenden, ein Blick zeigte ihm, daß sich die Tür hinter ihm wie von Geisterhand bewegt geschlossen hatte. Er zuckte unwillkürlich die Achseln. Dayel hatte es geschafft, wieder hinauszukommen, also würde es ihm wohl ebenfalls gelingen. Langsam stieg er weiter abwärts, mit gespannten Sinnen. Die Treppe schien kein Ende zu nehmen, und wahrscheinlich war es dieses groteske Mißverhältnis zwischen der Länge des Wegs und der Enge dieser Fuchsröhre, die auch in Charru allmählich ein Gefühl des Fremden, Unwirklichen weckte. Er biß die Zähne zusammen und senkte die Rechte auf den Schwertgriff. .
Wie viele Stufen mochten es sein? Fünfzig? Hundert? Er zählte sie nicht. Wider Willen verlangsamte er
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