Söhne der Erde 11 - Die Katakomben von Luna
Nergal will ihnen einreden, daß die wahren Götter ihnen mit allem, was passiert ist, nur eine Prüfung auferlegt haben, damit sie ihre Treue beweisen können.«
»Und die Tempeltal-Leute?«
»Ich weiß nicht. Viele von ihnen zweifeln noch. Aber zumindest die Frauen wollen ihre Kinder nicht in Furcht und Aberglauben aufziehen.«
Charru nickte.
Für ihn war es schwer, unbefangen mit Katalin zu sprechen. In der Welt unter dem Mondstein hatte es lange Zeit für selbstverständlich gegolten, daß er sie eines Tages zu seiner Frau machen würde. Und er wußte, daß sie ihn liebte. Damals, als sie todkrank gewesen war, hatte sie es ihm gesagt. Aber dann war Lara gekommen. Und Lara war seine Frau, würde es sehr bald auch vor dem Gesetz der Tiefland-Stämme sein.
Das Gesetz der Tiefland-Stämme...
Was galt es eigentlich noch in dieser neuen Welt? Nichts, sofern es Äußerlichkeiten betraf. Die Feuerbestattung, um derentwillen Arliss von Mornag unter dem Opfermesser der Priester gestorben war, bedeutete nichts mehr, seit sie wußten, daß die Welt in Wahrheit nicht von Flammen umschlossen war. Und alles, andere? Der Treueeid, der in der Welt unter dem Mondstein so schwer gewogen hatte? Der Königseid, der die Fürsten von Mornag für ihr ganzes Leben an die Verpflichtung gegen die Stämme band? Der Begriff der Ehre, den die Marsianer nicht kannten - außer in historischen Filmen?
Nein, die Ehre eines Mannes hatte nichts zu tun mit den äußeren Bedingungen, unter denen er lebte.
Die Ehre war nichts anderes als jene Kraft, die einen Menschen zwang, seinem Gewissen zu folgen - ganz gleich in welcher Welt. Und der Gefolgschaftseid, der Königseid - was wären sie anderes als der Versuch, in einer Welt voller Wirrnisse und Gefahren eine Insel der Verläßlichkeit zu schaffen, ein paar Gesetze, die nicht falsch sein konnten, weil sie der inneren Wahrheit derer entsprachen, die sie aus freiem Willen befolgten? Vielleicht würden diese Gesetze sich ändern -irgendwann, weil sich die Wirklichkeit änderte. Aber dann würden sie sich aus sich selbst heraus ändern und würden nie in eine Sklaverei münden, wie sie die Bürger der Vereinigten Planeten im Namen von Frieden und Ordnung errichtet hatten.
Frieden, Ordnung und Sicherheit genügten nicht.
Der friedlichste, wohlgeordnetste und sicherste Ort der Welt war zweifellos ein Käfig - und nicht einmal die Marsianer, die nicht mehr wußten, was Freiheit bedeutete, wünschten sich ernstlich, in einem Käfig zu leben.
Charru versuchte, die Grübeleien abzuschütteln.
Eine Weile hörte er zu, wie Katalin dem Blinden die dunkle Endlosigkeit des Raums dort draußen zu erklären versuchte. Ein paar Frachtdecks des Schiffs wurden nicht gebraucht, weil sie nur Wasser und Konzentrat-Würfel mitgenommen hatten, und waren in Gemeinschaftsräume umgewandelt worden. Die Menschen versuchten, sich abzulenken, für eine Weile alle Gefahren zu vergessen. Gestern abend hatte Camelo, der jetzt in der Pilotenkanzel saß, auf der Grasharfe gespielt und gesungen - ein Lied über die Sterne, über die Unendlichkeit, über eine strahlende Zukunft voller Glück, in der es keinen Krieg mehr geben würde. Jetzt saßen Karstein und der riesenhafte Hunon an einem der weißen Tische und maßen ihre Kräfte. Ihre Hände hatten sich ineinandergehakt, die kräftigen Muskeln an ihren Armen und Schultern spielten. Ringsum drängten sich die Zuschauer, lachten und schlossen Wetten ab. Auch Hunon lachte. Er würde sein versklavtes Volk nicht vergessen, aber er würde wieder lernen zu leben.
Gerade bog er unter dem Beifall der anderen Karsteins Arm auf die schimmernde Kunststoff-Platte hinunter. Der Nordmann keuchte, seufzte schwer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Blick fiel auf Charru, und er lehnte sich mit einem unbeschwerten Grinsen zurück.
»Unglaublich«, knurrte er. »Eh, Charru, du bist der einzige, der mich bei diesem verdammten Spiel je besiegt hat. Willst du es nicht mal mit Hunon versuchen?«
Charru grinste zurück. »Du weißt genau, daß ich dich nur durch puren Zufall besiegt habe. «
»Ha! Zufall! Das sagst du, weil du nicht gegen Hunon antreten willst. «
»Stimmt genau. Vielleicht später mal. «
Er ging weiter, ohne zu erwähnen, warum er keine Zeit hatte.
Es war gut, daß fast alle die vor ihnen liegenden Gefahren für eine Weile vergessen hatten. Niemand konnte ständig unter einer solchen Anspannung leben. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem die
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