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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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obligatorische Ritual des Auspustens verzichten zu müssen.
    Meine ganze Kindheit war ein Treppenhaus aus Ritualen. Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen waren eine Unzahl von Tanzschritten und Schachzügen zu vollziehen, die alle nur darauf warteten, zu Zwängen oder zu Ängsten heranzureifen. Muster am Boden, die genau entlanggegangen werden wollten, Rechtecke und Kreise, die traurig und unregelmäßig wurden, wenn man sie nicht unaufhörlich zählte, Bilder im Zimmer, die man so lange hin und her rücken musste, bis sie endlich vollkommen symmetrisch hingen und immer noch nicht schöner geworden waren. Porträtfotos, die einem hinter seinemRücken Grimassen schnitten und jedes Mal wieder in ihre starre Miene zurücksprangen, wenn man sich umdrehte. Auf dem Klavier stand ein großes Porträtbild meines Vaters mit gekreuzten Händen auf dem Rücken, wie Flügel, für die man sich schämt.
    Wie merkwürdig es sich anfühlt, meinen Vater in den Kreis der Dinge aufzunehmen, die mich geprägt haben, da er eigentlich die meiste Zeit abwesend war, im Geiste oder tatsächlich. Er ist dabei mit den Männern in meiner Familie in guter Gesellschaft. Mein Großvater mütterlicherseits wurde, als ich ungefähr zehn Jahre alt war, plötzlich krank und musste daraufhin immer wieder sehr lange Zeit in psychiatrischen Einrichtungen verbringen. Die vielen Medikamente, die er nehmen musste, haben ihn in eine murmelnde Mumie verwandelt. Mein Onkel väterlicherseits ist schwer alkoholabhängig und lebt noch bei seinen Eltern.
    Meine Erziehung erfolgte fast ausschließlich in der Gesellschaft von Frauen. Sie waren immer diejenigen, die die Kommunikation weitertrieben, die mich gelehrt haben, mich anzuziehen, mich selbst zu versorgen, mich zu orientieren, ja sogar mich wie ein Mann zu benehmen.
    Nichtsdestotrotz werde ich meinen Vater antreten lassen, diesen abwesenden und nur hin und wieder vor Unzufriedenheit aus dem Hintergrund loskläffenden Fremden. Das Erste, was ich ihm in meinem Leben im Stillen vorgeworfen habe, war seine Art, sich immer zu Freude und kindlichem Verhalten zu zwingen, sich zu überwinden, um seinem Gesicht einen Ausdruck von Glück aufzubinden. Recht bald hörte er auch damit auf und erstarrte zu einem autistischen Wohnungsgenossen, der zufällig für gewisseTätigkeiten zuständig war. Aber vorher – und das bezeichnet meine ersten acht bis zehn Lebensjahre – gab es immer wieder die Bumerangmomente großer Enttäuschung, in denen ich merkte, wie hoffnungslos schwierig es für ihn war, beim Anblick einer Geburtstagstorte zu lächeln oder jemandem alles Gute fürs neue Jahr zu wünschen. Sein Gesicht verriet ihn dabei immer. Mir erschien er immer als ein Mann, der im Besitz einer bitteren Wahrheit sein musste. Diese Wahrheit musste, so viel rechnete ich mir aus, mit dem Leben fern seiner Dorfheimat zusammenhängen, andererseits mit der bekannten Tatsache, dass alle Lebewesen sterben. Tatsächlich kenne ich keinen Menschen, der vor dem unausweichlichen Ende des menschlichen Lebens einen größeren Horror hat als er. Nichts kann für ein Kind erklärungsbedürftiger sein als das Verhalten seiner Eltern. Gab es Hinweise auf die Wahrheit in seinen spärlichen Äußerungen? Ja, die gab es. Man musste sie nur heraushören. Ein Kind wird zwangsläufig zum Experten für jede kleine Nuancenverschiebung in den Äußerungen und Handlungen seiner Eltern. Die Selbsterhaltung fordert eine solche Verwandlung von einem hilflosen Lebewesen zu einem Seismographen, der nur eine Schwingung auf der ganzen Welt genau messen kann. An einem Silvestertag sagte mein Vater beispielsweise zu mir:
Bald ist es aus mit der Kindheit
. Damals war ich ungefähr fünf Jahre alt. Es bedeutete nicht, dass er meine Kindheit gewaltsam zu beenden gedachte, sondern der Satz war Ausdruck seiner Verwunderung, wie lange der so genannte Ernst des Lebens an mir vorbeigegangen war, ohne mich im tiefsten Kern zu erschüttern. Er sagte:
Du kannst dich anstrengen, wie du willst,aber man kommt doch nie dahinter, wozu das alles
. Oder:
Dass es ausgerechnet so ist und nicht anders, überall nur Wahnsinnige, überall, hinter jeder Haustür und überall, überall nur Wahnsinnige!
Er redete mindestens einmal am Tag von Gewalt. Gewalt faszinierte ihn, weil er darin wohl eine befreiende Unbekümmertheit spürte. In seinen Worten:
Ich würde nie jemanden umbringen, ich bin kein Mörder. Ein Mörder ist einer, dem alles egal ist, wirklich alles, sogar er selber
. Nun gut,

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