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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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er war sich selbst also nicht egal. Das stimmte, er war und ist immer noch ungeheuer verschämt und bedacht auf sein Äußeres, fürchtet sich vor dem Älterwerden und führt genau Buch über die verschiedenen Bemerkungen, die im Lauf der Zeit über sein Erscheinungsbild gemacht wurden.
    Ich werde noch einiges über meinen Vater zu sagen haben. Aber er wird mir ein Rätsel bleiben. Der Unterschied zu meiner Kindheit ist nur, dass ich es nicht mehr lösen will, nicht mehr lösen muss, um in Frieden zu existieren. Natürlich verdanke ich ihm einiges, nicht zuletzt die Dinge, die er, ob er will oder nicht, an mich vererbt hat.
    Was wir einem Vater in jedem Fall verdanken, ist die erste Konfrontation mit einem Mann, der die bittere oder verlockende Wahrheit der Weitergabe von Leben in sich trägt. Am häufigsten in einer Mischung aus überquellendem Staunen und einem körperfremden Gefühl von Das-darf-doch-nicht-wahr-sein.
    Ich gebe es zu, Ernst Mauser gab mir manchmal ein Gefühl von Geborgenheit, obwohl er ein Mann war. Das seltsame Verhalten der Männer. Naturgemäß bleibt es mir immer ein Rätsel.
    Wie alle Schriftsteller, die in der Gesellschaft von Frauen aufgezogen worden sind und die ihre Sexualität aus Lust und Notwendigkeit in ihr Werk integrieren, habe ich eine Art von selbstverständlicher Obsession für weibliche Verhaltensweisen, Körper, Beziehungen und Eigenschaften. Wahrscheinlich ist nichts weniger überraschend als diese Feststellung, denn jeder kann ja nur über die Dinge schreiben, die er am besten kennt.
    Das Paradoxe ist nun aber, dass es bei mir ein männliches Äquivalent zu dieser Obsession durchaus gibt. Aber was damit anfangen? Was mit dem obskuren Gebiet des männlichen Körpers, seinen Verhaltensweisen, seinen Gedanken und in die Irre wandernden Beziehungen? Das meine ich nicht sexuell, nein, die eine, männliche Hälfte der Welt entgeht mir eben, da kann man nichts machen. Aber es war mir obendrein immer ein Rätsel, wie Männer neben Männern in der Gesellschaft existieren. Ich kann sie beobachten, studieren, Herrenrunden und Väter im Gespräch belauschen, mich selbst, so gut es geht, durch allerlei Kunststücke mit Zerrspiegeln und Traumerzählungen analysieren – aber der Ertrag scheint mir immer erstaunlich mager. Gut, damit ließe sich ja leben. Doch selbst in einfachen Details wie dem Grund für einen Streit oder den Nachwirkungen eines freundlichen und belebten Gesprächs über Malerei erscheint mir ihr Verhalten merkwürdig unergründlich. Männer bilden zwar fast immer auf Anhieb Gruppen, wenn sie auf engem Raum nebeneinander existieren müssen, aber diese Gruppen bleiben seltsam unstrukturiert, solange keine Frau in der Nähe ist. Es fehlt in der modernen Literatur an Darstellungen von männlicher Koexistenz.Selbst homosexuelle Literatur bietet dafür aufgrund der so verschiedenen Schwierigkeiten, die in ihr allermeist beschrieben werden, praktisch keine Ergänzung. Vieles von dem, was mein Vater, seine Arbeitskollegen, männliche Lehrer et cetera taten, war für mich lange unverständlich, funktionierte nach eigenartigen Spielregeln, die ich zwar im Schlaf erlernte, aber niemals abbilden oder einfangen konnte. Ein Tausendfüßler, der wissen will, welches Beinchen er als nächstes bewegen wird, wenn er losläuft, hat mehr Chancen als ich, wenn ich versuche, meine Reaktionen gegenüber einem Mann in meiner Umgebung zu durchschauen. Ich kenne nur ganz wenige Männer, die sich als meine Freunde bezeichnen würden. Mein ganzes Wesen ist auf Frauen ausgerichtet, auf ihre Verhaltensweisen und die verschiedenen Grade von Attraktion und Abstoßung zwischen mir und ihnen. Ähnlich bewegliche Beziehungen bestehen natürlich auch zwischen mir und einer Handvoll Männern, aber es fehlt in meinem Wahrnehmungsapparat scheinbar die Fähigkeit zur Versenkung in diese Spielart menschlicher Interaktion. Ich habe in Büchern nach Hinweisen gesucht, habe sie auch, wenn auch nur selten, gefunden, etwa bei Harold Brodkey, bei Melville, bei Thomas Bernhard, vielleicht auch bei Dostojewskij, kaum allerdings bei Hemingway – aber sie dringen nur mühsam, wie durch einen zähen Nebel, zu mir durch. Ich weiß nicht, welche zukünftigen Irrtümer und Dummheiten diese Unfähigkeit ankündigt.
    Etwas fällt mir noch ein … Ich habe in den Bemerkungen über meinen Vater den Tod gestreift. Elias Canetti hat vielen Dichtern vorgeworfen, sie würden den Tod, wenn sie ihn nicht romantisieren, so doch immer

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