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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Hasen kaputt getrampelt und geschrien: Mein Ball, mein Ball!
    Bei näherer Betrachtung stelle ich fest, dass der Professor Ernst Mauser im Comic ähnlich sieht.
    Eine andere Pionier-Episode.
    Das erste Mal Panik vor einem der Bilder im Anatomiebuch meiner Mutter. Sie beschwichtigt mich und erklärt mir den Aufbau des Skeletts. Tagelange Verstörung, dass ein weißes Gespenst aus Knochen in mir lebt.
    Aber ich verdankte der Krankenhausarbeit meiner Mutter auch manches Beispiel unerwarteter negativer Poesie. Wie etwa die Episode mit dem Polizisten, der auf der Onkologiestation ein Zimmer mit einem Schwarzen teilen musste. Nach anfänglichen abfälligen Bemerkungen, dass es eine Zumutung sei, tagtäglich mit einem »Neger« konfrontiert zu sein, steigerte sich der absurde Hass des krebskranken Polizisten zu immer größerer Weinerlichkeit, sodass er die Ärzte und Schwestern schließlich fast jeden Tag verzweifelt und hysterisch um ein anderes Zimmer bat. Mit Tränen in den Augen betrachtete er seinen Kopf im Spiegel, dem infolge einer Chemotherapie die Haare (die Locken am Kopf und der Schnauzer unter der Nase) ausgefallen waren. Er wurde immer schwächer, bald besuchte ihn die Familie jeden Tag. In den Nächten redete er mit sich selbst und der Schwarze antwortete ihm, weil auch er nicht schlafen konnte.
    Ich habe sogar von diesem Polizisten geträumt, obwohl ich ihn nur von Erzählungen meiner Mutter kenne. Im Traum hieß er Holunder. Er schämte sich sehr, er schwitzte und lachte nervös bei jeder Berührung. Er schämte sich sogar für seine Hände. Deshalb biss er ständig in sie und versuchte, sie zu schlucken. Aber mehr als ein hoffnungsloses Würgen brachte er nicht zustande.
    Das Bild erinnert mich an eine Szene aus Kafkas später Erzählung »Forschungen eines Hundes«, in welcher ein asketischer Köter vor lauter Hunger seine Beine bis hinauf zum After ins Maul nimmt. Ein letzter, verzweifelter Versuch zur Autonomie, zur Bildung einer
Kotspirale
.
    Auch dieses Wort stammt aus einem meiner Träume. Aber es wäre mir peinlich, den Inhalt dieses Traums vor Ihnen auszubreiten wie ein Geständnis. Ich stehe nicht unter Eid. Kein Erzähler tut das.
    Als Kind habe ich angesichts mancher Darstellungen des Hl. Sebastian mit seinen vielen, vielen Pfeilen (ich traute mich seltsamerweise nie, sie zu zählen) in Oberkörper, den Schenkeln, den Lenden, in Hals und in den Armen die unterschiedlichsten ekstatischen Zustände durchlebt, von Ekel und selbstzerstörerischem Mitleid bis zu tiefreligiösen Schuldphantasien. Ich schlüpfte nackt unter das Leintuch, das über mein Bett gespannt war, und ließ mich von dem kühlen, glatten Stoff berühren. Ich geriet so in einen Rausch, der mehrere Stunden anhalten konnte. Man hat mir versichert, dass viele Kinder für solche Dinge zugänglich sind, wenn sie zum ersten Mal ihren Körper und seine rätselhafte Verletzbarkeit, die tiefe Grubenunglückswelt unter der Haut entdecken und sich die Frischhaltefolie der Vergänglichkeit über ihre Gedanken legt. Natürlich brachten auch Kreuzigungsszenen, die ich in einem alten Kunstgeschichtebuch meiner Mutter finden konnte, diese Mischzustände aus Abscheu und Verzückung hervor. Jeder kennt das. Ich habe mich seitdem immer wieder gefragt, ob die für viele Menschen spürbare, merkwürdig heilsame und religiös bestärkende Wirkung der Kreuzigungsdarstellung nicht vielleicht auf diese infantil-körperliche Dimension zurückführbar ist. Das Blut, die zerschundene Brust des Gekreuzigten, die Entstellungen an Hand- und Fußgelenken, die rätselhafte, hilflose, schräge Stellung seiner Hüften, als wäre ihm vor allem das ständigzur Seite gleitende Gewicht seines Körpers die größte Last – das alles ist vielleicht Teil des religiösen Gefühls, wie es manche Menschen kennen. Ich bin kein religiöser Mensch. Eigenartigerweise habe ich selbst in solchen Episoden meines bisherigen Lebens, in denen mein Leben bedroht war oder ich es zumindest für bedroht gehalten habe, nie um das Dasein eines Gottes gefleht. Er wäre mir von allein niemals in den Sinn gekommen. Viele Menschen bedauern mich deswegen und sagen, mir fehle ein wesentlicher Teil der künstlerischen Weltwahrnehmung. Ob sie Recht haben, mag Gott entscheiden.
    Das Gymnasium, das ich besuchte, war nach Johannes Kepler benannt. Damals hatte es noch keine Sternwarte. Ich lernte mindestens zwanzig Mal in meinem Leben die drei Kepler’schen Gesetze auswendig und jedes Mal dachte ich

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