Söhne und siechende Seelen
Fußmatte in ihrer Hand warf sie auf die Stufe vor der Haustür. »Wenn wir uns hier draufsetzen, wird uns nicht kalt.«
Mit Mühe und Not quetschten wir uns auf die winzige Fußmatte. Unsere Hintern berührten einander. Allzu erregend konnte ich das irgendwie nicht finden. Ganz im Gegenteil, es war mir unangenehm. Enttäuschte mich etwa die Entdeckung, dass auch Alev Abla über einen Hintern verfügte? Auch sie schien ein wenig gereizt. Sie sagte nichts. Dabei fand sie sonst immer etwas zu erzählen. Dieser absurde Körperkontakt hatte eine seltsame Spannung zwischen uns entstehen lassen. »Der Altersunterschied spielt für mich überhaupt keine Rolle«, platzte es aus mir heraus.
»Was?« Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie mich an.
Doppelte Pause bei mir. »Das war ein Scherz.«
Doppelte Pause nun bei ihr. Vielsagend war ihr Schweigen allerdings nicht, eher töricht. Dann prustete sie laut los. »Du bist mir vielleicht einer!« Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. »Aber es stimmt. Immerhin liegen vierzehn Jahre zwischen uns. Wenn du achtzehn bist, werde ich zweiunddreißig sein. Dann passt’s!«
Wozu passte es? Frauen sind in der Tat komische Kreaturen. Gerade noch wäre sie wegen meines Gags beinahe in Ohnmacht gefallen, und nun machte sie Äußerungen, die zu weitaus unanständigeren Assoziationen einluden. Ein anderer Junge an meiner Stelle, und seine Gefühle hätten dadurch verletzt werden können. Gottlob war ich über diese Dinge längst hinaus. Und außerdem: Wäre überhaupt noch eine Spur von diesem ausgelassenen und quirligen Mädchen übrig, wenn ich dieses Alter erreicht hätte? Sie spürte mein unruhiges Zappeln und zog ihre Hand weg. »Hast du was?«
»Mein Vater wird versetzt.«
»Echt? Wohin denn?«
»Nach Erzurum.«
»Na so ein Pech!« Plötzlich war sie sehr ernst geworden. »Du wärst doch nächstes Jahr in die Schule gekommen.«
»Gibt es in Erzurum keine Schulen?«, fragte ich in meiner dümmlichen Hoffnung.
»Aber natürlich«, meinte sie. »Schulen wird es geben, aber sie werden nicht so gut sein wie hier, denke ich.«
»Zur Hölle mit der Schule«, gab ich zurück, um das Thema nicht weiter zu vertiefen. Was glaubte sie schon, was Bildung war? Was die Leute in der Schule eigentlich lernen sollten, war nicht der Lehrstoff an sich, sondern die Notwendigkeit, im Unterricht die Klappe zu halten. Und ich war mir sicher, dass dies in Erzurum die Königsdisziplin war. »Ich mache mir Gedanken um meinen Vater.«
Einige Minuten saßen wir schweigend da. »Habe ich dir schon die Schneekönigin erzählt?«, fragte Alev Abla schließlich.
Ein Märchen? Der Plausch mit mir schien sie nicht sonderlich vom Hocker zu reißen. »Ehrlich gesagt bin ich nicht in der rechten Stimmung für Märchen. Ich würde lieber ein bisschen rumlaufen«, sagte ich und stand auf. Sie hielt mich an der Hand fest. Mir wurde seltsam warm ums Herz. Womöglich war ich zu überstürzt vorgegangen, als ich dem Leben gegenüber derart in Verzweiflung gestürzt war. Vielleicht standen auch für mich nette Überraschungen am Wegesrand bereit. Steckte nicht noch vor wenigen Stunden meine Hand in den Fängen eines Sadisten? Behutsam setzte ich mich auf meinen Platz.
»Das ist ein sehr schönes Märchen«, sagte sie, »und es hat auch ein wenig mit uns beiden zu tun.«
Ach nee. Es hatte also auch mit uns zu tun. Mit uns beiden. Ich hatte so an der Innenseite meiner Backe herumgeknabbert, dass ich das Blut schmecken konnte. Sollte das möglich sein? Sollte Alev Abla Sympathie für diese triste Welt in mir auslösen können? Würde ich Jahre später, wenn ich zurückblickte, sagen können, dass es trotz allem gut war, dass es sich gelohnt hatte, einer dieser Menschen zu werden, die ich auf der Straße vorbeigehen sah? Und würden dann unsere Seelen Hand in Hand in alle Ewigkeit ziehen? »Dann erzähl mal.«
Es handelte sich um ein recht langes Märchen, das ich Jahre zuvor gelesen hatte. Die Schneekönigin war eine Hexe aus Lappland, die nichts als Bosheit und Zwietracht im Sinn hatte. Das besagte fiese Weib ließ sich einen Spiegel bauen, in dem alles Schöne hässlich aussah und alles Gute eklig und bösartig wurde. Wer die Welt durch diesen Spiegel sah, wurde sogleich hartherzig und böse. Die Teufelchen der Schneekönigin flogen mit dem Teil überall auf der Welt herum, um es den Leuten vor die Nase zu halten. Daran hatte die Königin eine perverse Freude. Doch auf einer ihrer Reisen, die sie, wie ich
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