Söhne und siechende Seelen
kein Gramm reifer geworden und so beknackt, wie sie vorher gewesen waren, zurück nach Hause und an Omas Rockzipfel.
Nachdem Alev Abla das Märchen beendet hatte, dachte ich wohlmeinend darüber nach, was das Ganze mit uns zu tun hatte. Ich muss zugeben, dass ich zu keinem allzu logischen Ergebnis kam. Nehmen wir einmal an, die Nachbarskinder Gerda und Kay standen für Alev und mich. Auch konnte man getrost behaupten, dass ich die Welt durch diesen verdammten Spiegel betrachtete. Aber wer war bitteschön die Schneekönigin? Wahrscheinlich Erdoğan Bey. Wenn ich also nach Erzurum oder in die tiefste Hölle fuhr, würde Alev Abla dann kommen und mich finden? War es das? Ich war mir nicht sicher, ob sie sich ihrer Worte bewusst war. »Das ist ein schönes Märchen«, meinte ich.
»Als ich klein war, war das auch mein Lieblingsmärchen«, gab sie zurück und strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht. Wieder fasste sie mich an der Hand und zog mich hoch. »Komm, lass uns reingehen.«
Gerade, als ich mich erhob, um meinen Haustürschlüssel aus der Tasche zu ziehen, hörte ich ein Mordsscheppern, gefolgt von dem Geräusch eines Gegenstands, der auf dem Boden in Stücke ging. Sofort sprang ich mitten auf die Straße, um Nachforschungen über den Grund für diesen Krach anzustellen. Ein riesiges altes Radio lag in Trümmern auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig. Ich sah nach oben und konnte erkennen, dass in Hicabi Beys Dachwohnung eine Fensterscheibe zerbrochen war. In dem Moment zerschmetterte ein Gemälde das andere Fenster in tausend Stücke und kam heruntergeflogen. Wenige Sekunden später regnete es Vasen, Bilderrahmen und diversen anderen Plunder. Sogleich wollte ich mich zum Tatort begeben. »Wohin willst du? Halt!«, brüllte Alev Abla hinter mir her. Mit einem Satz war ich im Haus und in Hicabi Beys Wohnung. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Spitzes, hysterisches Kreischen mischte sich mit dem lautstarken Gebrüll des Fußballkommentators aus dem Fernseher. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging hinein. Am Eingang waren der Kleiderständer und der Schuhschrank umgestürzt. Den Stühlen um dem Esstisch war das gleiche Schicksal widerfahren. Der Fußboden war übersät mit Glasscherben. Während ich zu verstehen versuchte, was hier passiert war, sprang aus der linken Ecke des Zimmers, die außerhalb meines Blickfelds lag, plötzlich ein Gnom mit einem entsetzlichen Schrei. Dieses merkwürdige Wesen, das um den Esstisch herumzulaufen begann und dabei ein beknacktes Lied sang, in dem Worte wie »toh, toh« vorkamen, war niemand anderes als der verrückte Ertan. Nachdem ich meinen ersten Schreck überwunden hatte, fragte ich ihn: »Ertan, was ist bloß los mit dir?«
Ertan hatte anscheinend nicht die Absicht, mir zu antworten. Er war vielmehr damit beschäftigt, das Geschirr auf dem Tisch durch die Gegend zu schleudern. Ich schützte mein Gesicht und machte noch ein paar Schritte. Der Fernseher dröhnte von der Seite, von der Ertan gerade aufgetaucht war. Ich drehte mich nach links und sah das Gerät und genau davor ein Zweiersofa, die Rückseite mir zugewandt. Hicabi Beys ausrasierter Nacken lehnte am rechten Kopfteil. Ich rief ihn, aber er gab keinen Piep von sich. Klar, er war ja taub. Ich ging zu ihm. Seine starren Augen sahen in Richtung Fernseher. Sein Mund stand offen. Auf dem länglichen Beistelltisch, der parallel zum Sofa platziert war, stand ein Obstteller. Ich berührte Hicabi Bey leicht an der Schulter. Er bewegte sich immer noch nicht. Plötzlich bemerkte ich den rötlichen Schlitz an seinem Hals. In dem Moment wurde mir bewusst, dass Rot nicht die eigentliche Farbe seines Hemds und des kleinen Kissens war, das er unter dem Arm geklemmt hielt. Schlagartig begriff ich, was vorgefallen war. Hicabi Bey war nunmehr eine Leiche. Jemand hatte ihm die Gurgel durchgeschnitten. Mit dem Brotmesser, das neben einem Tischbein auf dem Boden lag. Jemand? Panisch drehte ich mich um. Der verrückte Ertan hatte seine blutigen Hände ausgestreckt und kam auf mich zugerannt. Ich konnte mich weder rühren noch einen Ton von mir geben. Das Blut gefror mir in den Adern. Der verrückte Ertan schlang seine Arme um meinen Leib, hob mich hoch und begann sich im Kreis zu drehen. Wahrscheinlich, so dachte ich, würde er mich umbringen, indem er meinen Schädel irgendwo dagegenknallte. Aber obwohl wir in dieser Haltung ein paar Runden drehten, tat er nichts, was mir hätte Schaden zufügen können. Er schrie bloß
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