Söhne und siechende Seelen
immerzu »toh, toh«. Wenn ich ganz ehrlich bin, hielt er mich äußerst vorsichtig, ja sogar liebevoll in seinen Armen. Meine Angst ließ nach, weswegen die Fernsehgeräusche wohl meine subliminale Wahrnehmung verließen. Mit einem Seitenblick auf das Spiel begriff ich die Situation. Der verrückte Ertan freute sich mit mir einfach über das Tor, das Beşiktaş gerade geschossen hatte. Ich atmete auf. Zum zweiten Mal sprang ich an diesem Tag dem Tod von der Schippe. Plötzlich begann mich eine seltsame Frage zu beschäftigen: Ob Hicabi Bey wohl noch das Tor mitbekommen hatte, bevor er starb?
drei
es geht doch nichts über recht und ordnung
Bei Ankunft auf der Wache zerrten die Polizisten den verrückten Ertan am Kragen aus einem Minibus. Meinen Vater und mich ließen sie etwas sanfter aus einem alten Renault aussteigen. Während der verrückte Ertan in die Haftzelle geführt wurde, machte uns ein Polizeibeamter ein Zeichen, ihm zu folgen. Gemeinsam gingen wir bis zur Tür eines der hinteren Räume im Erdgeschoss. Seit einer Stunde hatten mein Vater und ich kein Wort von uns gegeben, aber dennoch hielt es der Beamte für notwendig, seinen Zeigefinger an den Mund zu legen und uns damit den Befehl zum Schweigen zu erteilen. Offensichtlich hatte er Ehrfurcht vor der Person in dem Zimmer. Er klopfte leicht an und streckte den Kopf durch die Tür: »Ist der Kommissar nicht da, Adem Abi?«
»Er ist runter in die Teestube zum Fußballgucken«, hieß es von drinnen. »Ich denke, danach verschwindet er nach Hause.«
»Hier ist ein Junge. Er wurde Zeuge eines Mordes und muss seine Aussage machen.«
»Ist der Staatsanwalt nicht zum Tatort gekommen?«
»Nein«, antwortete unser Beamter. »Die Kollegen warten immer noch. Wir nehmen an, dass er nach dem Spiel kommt. Ich denke, es wäre gut, wenn du den Kommissar informierst. Damit wir keine Schwierigkeiten bekommen, wenn der Staatsanwalt mitten in der Nacht plötzlich auftaucht und in Kenntnis gesetzt werden will.«
In welchem Land leben wir denn, dachte ich. Da ist jemand ermordet worden, und die Polizisten und die Staatsanwälte sitzen gemütlich vor der Glotze und machen bis zum Spielende keinen Finger krumm. Seltsamerweise führt das nicht zu Problemen, denn die Mörder tun ja dasselbe.
»Ist mir doch egal, Mann! Ich bin ja nicht sein Kindermädchen«, blaffte der andere gekünstelt zurück.
Der Beamte wandte sich an uns. »Gehen Sie hinein. Warten Sie hier.« Als wären wir nicht Zeugen des Gesprächs zwischen ihm und seinem Kollegen gewesen, fügte er hinzu: »Der Herr Kommissar untersucht gerade den Tatort. Er wird gleich hier sein.« Ich konnte es ihm natürlich nicht übelnehmen. Es gehörte zu seinen Aufgaben, dem Bürger das Gefühl zu geben, alles nähme seinen rechten Gang. Dass er im Bereich Überzeugungsfähigkeit nicht über ausgefeiltere Methoden verfügte, musste man der allgemeinen Praxis zuschreiben.
In dem Raum, den wir betraten, standen zwei für Amtsstuben typische Schreibtische im rechten Winkel zueinander. Der eine war größer und leergefegt und gehörte zweifelsfrei dem Herrn Kommissar. An dem anderen saß ein grauhaariger Polizist um die vierzig, der eine viel zu große Brille im allzu faltigen Gesicht trug. Das war Adem Abi. Er hob nicht einmal den Kopf von der Zeitung, die er zu einem Viertel gefaltet in einer Hand hielt, und sagte: »Setzt euch.« Wir taten wie befohlen.
»Können Sie nicht die Aussage aufnehmen?«, fragte mein Vater.
Der Hüter des Gesetzes warf ihm einen finsteren Blick zu. »Das macht der Kommissar.«
Mein Vater zog eine Grimasse, griff aus dem Stapel von Zeitungen auf dem Tisch eine heraus und schlug die Seite mit den Kreuzworträtseln auf. Und ich begann von meinem Platz aus, den Bericht über einen Selbstmord zu lesen, der an der Pinnwand hinter dem Tisch des Kommissars hing. Ich muss sagen, dass das Verhältnis des Verfassers zum Schreiben noch gestörter war als das von unserem Hakan, aber der Fall war ziemlich interessant. Bei dem Opfer handelte es sich um eine dreiunddreißig Jahre alte Krankenschwester. Sie hatte ein Verhältnis mit einem verheirateten Herzchirurgen, der im selben Krankenhaus arbeitete wie sie, und er machte Schluss mit ihr. Eines Tages drang die Krankenschwester mit einer Pistole in der Hand in sein Dienstzimmer ein. »Sieh dir mein Herz an«, sagte sie und schoss sich eine Kugel in dasselbe. Der Chirurg brachte sie sofort in den OP. Er konnte das Leben der Krankenschwester nicht retten, aber
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