Söhne und siechende Seelen
Platz. Die Höflichkeit, nach der man bei den meisten seiner Kollegen vergeblich suchte, rechnete ich ihm in der Tat hoch an.
»Wie ich bereits gesagt habe, konnte ich die Person nicht genau sehen«, erklärte ich. »Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass sie dünn war. Und ziemlich groß.«
»Wohnt Ihrer Kenntnis nach dort jemand, auf den diese Beschreibung passt?«
Damit waren wir am Knackpunkt angekommen. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden. Ob ich Gazanfers Namen nennen sollte? Um ehrlich zu sein, passte die Beschreibung auch perfekt auf Erkin und Koray oder Zafer Abi. Ich dachte sogar darüber nach, in Tränen auszubrechen. Doch zum Glück kam mein Vater mir ein weiteres Mal zu Hilfe: »Das werden Sie wohl selbst herausfinden müssen. Sehen Sie nicht, in welchem Zustand der Junge ist? Lassen Sie uns endlich gehen!«
Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns ließ sich Onur Çalışkan in seinen Bürosessel sinken. Mit Sicherheit verfluchte er insgeheim sein Schicksal dafür, am heutigen Abend Dienst zu haben. »Sie haben recht. In Ordnung. Vielleicht haben die Kollegen etwas aus dem Verrückten herausbekommen. Adem! Geh und frag, wie es aussieht.«
»Zu Befehl, Herr Kommissar!«, rief das Schwert der Gerechtigkeit. Er hatte nur auf die geeignete Gelegenheit gewartet, seine Nachlässigkeit bei seinem Vorgesetzten wieder gutzumachen, also rannte er los, um seinen Auftrag zu erfüllen.
»Selbst wenn der Mord vor Ertans Augen verübt worden sein sollte, so glaube ich nicht, dass er Ihnen etwas dazu sagen kann«, erklärte ich. »Als er hierher gebracht wurde, fiel er vor Angst zweimal in Ohnmacht. Wenn Sie etwas aus ihm herauskriegen wollen, müssen Sie sanfter mit ihm umgehen.«
Mit einem Fingerzeig auf mich fragte Onur Çalışkan meinen Vater: »Mit was füttern Sie ihn denn?«
»Ich bin hundemüde«, sagte ich. Ich war wirklich müde.
»Okay, Kleiner«, meinte der Polizist. »Du kannst gehen. Es kann allerdings sein, dass der Staatsanwalt mit dir reden will, damit du Bescheid weißt. Ich werde jetzt einen Wagen für Sie rufen.«
»Vielen Dank. Aber wir brauchen keinen Wagen«, sagte mein Vater und stand auf. »Wir gehen zu Fuß.«
Bevor wir gingen, sprach Onur Çalışkan leise mit meinem Vater. Ich denke, er sagte so Sachen wie »Verlassen Sie die Stadt nicht« oder »Passen Sie auf den Jungen auf«. Wenn man ihn mit Leuten wie diesem Wachtmeister Adem verglich, schien Kommissar Onur Çalışkan gar kein so schlechter Typ zu sein. Ein wenig Lebenserfahrung könnte ihn noch reifer machen. Aber natürlich auch verderben. Im Grunde genommen war diese Möglichkeit sogar wahrscheinlicher.
Auf dem Heimweg sagten mein Vater und ich kein Wort. Bestimmt war auch er besorgt und hatte Fragen an mich, doch zog ich es vor, sein Schweigen zu respektieren. Insgeheim sprach ich ihm mein Lob aus. Allerdings bezweifelte ich stark, dass meine Mutter die gleiche Sensibilität aufbringen würde. Ich betete, dass sie mich wenigstens heute Nacht in Ruhe ließe.
Gleich nachdem meine Mutter die Tür geöffnet hatte, begab ich mich in Richtung Bad. »Ich bin fix und fertig. Ich geh sofort ins Bett.«
Nachdem ich mir Gesicht und Hände gewaschen und die Zähne geputzt hatte, verzog ich mich in mein Zimmer. Ich konnte hören, wie drinnen meine Mutter meinen Vater mit Fragen löcherte. Ich zog meinen Schlafanzug an und legte mich ins Bett. Ich musste mich ausruhen. Ich konnte mich jedoch irgendwie nicht entspannen. Abgehackt und nach dem Zufallsprinzip schoss mein Gehirn Bilder der Ereignisse ab, die ich am Tag erlebt hatte. Je mehr ich mich abmühte, diese dunklen Geister abzuschütteln, desto mehr griffen sie an. All meine Sinne waren aus den Fugen geraten. Die Stimme meiner Mutter, das Kissen, das meine Wange berührte, der Leuchter, der von der Decke hing … Alles versetzte mich in Aufruhr. Ich war total am Ende. Schließlich gab ich den Kampf auf und stieg aus dem Bett. Ich ging zum Wandschrank und zog den Spielzeugrevolver von Gönül Teyze aus der Schublade. Ich legte eine rote Plastikkugel in die Trommel und ging wieder ins Bett. Im Sitzen öffnete ich die Gardine des auf der rechten Seite befindlichen Fensters einen Spalt breit und sah hinaus. Eigentlich tue ich das fast jede Nacht. Ich habe dann immer das seltsame Gefühl, als könnte ich Gott auf der anderen Seite der Scheibe sehen und er würde mir erklären, dass alles nur ein Witz sei. Dieser Gott, den ich mir mit geigenförmigem Haupt und schütterem
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