Söhne und siechende Seelen
Zeitgewinn von sechzig Minuten, die niemand so recht zu füllen wusste. Die Augen- und Mundwinkel meiner Mutter zuckten doppelt so häufig wie sonst, mein Vater rauchte Kette und tigerte motzend durch die Wohnung. Die perfekte Routine, die dafür sorgt, dass man den Tag auf möglichst schmerzlose Weise herumkriegt, hatte ich zerstört. Um wie viel Uhr man isst, von wann bis wann man fernsieht, wann man aufs Klo geht, wann man tot ins Bett fällt … Das Verhältnis zwischen Handlung und Zeit war das Resultat eines evolutionären Prozesses. In die Evolution einzugreifen ist nichts, was ein vernünftiger Mensch tun sollte.
Um der quälenden Stille im Haus ein Ende zu setzen, plante ich bereits, mich aus dem Fenster zu stürzen, als es an der Tür klingelte. Meiner Mutter, die öffnete, entfuhr ein winziger Aufschrei des Erstaunens. Der Mann, der gebückt von der Diele ins Wohnzimmer treten musste, war der zirka zwei Meter lange Rebi Abi.
»Rebi, willkommen, mein Junge. Herzliches Beileid«, sagte mein Vater und umarmte ihn.
»Ich danke Ihnen«, erwiderte Rebi Abi.
Auch meine Mutter äußerte auf ihre Weise ihr Bedauern. »Ah, Junge, du hast ja ganz geschwollene Augen. Geh und wasch dir die Hände und das Gesicht, dann geht es dir besser.« Mit einer Hand wies sie in Richtung Badezimmer.
»Ist nicht nötig, Teyze. Es geht mir gut«, gab Rebi Abi zurück und ließ sich gemeinsam mit seinen Bakterien auf einem Stuhl nieder. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie um diese Zeit überfalle.«
Wie aus einem Munde sagten meine Eltern irgendetwas, um zu beteuern, dass das ganz unwichtig sei.
»Ich habe es heute Morgen erfahren. Ich kam erst am Nachmittag mit dem Bus an. Erst das Krankenhaus, dann die Polizei, da ist es so spät geworden. Mein Bruder Şemi ist noch immer mit den Formalitäten für die Beerdigung beschäftigt. Mein Vater hatte verfügt, dass er neben meiner Mutter begraben werden möchte, aber neben meiner Mutter ist kein Platz und so weiter und so fort …«
»Es ist wirklich nicht schlimm, Junge«, insistierte meine Mutter. »Wenn du Hunger hast, mache ich dir schnell etwas zurecht. Du wäschst dir die Hände und kannst dich gleich an den Tisch setzen.«
»Machen Sie sich keine Mühe. Ich kann im Moment sowieso nichts essen.«
Meine Mutter, die die Hoffnung aufgegeben hatte, ihn ins Bad schicken zu können, zog einen Stuhl her, setzte sich und faltete die Hände. »Wie ist es? Läuft es mit dem Studium, Junge?« Ich war neugierig, wie lange sie Rebi Abi noch so behandeln würde, als wäre er zum Feiertagsbesuch zu uns gekommen.
Trotz all seiner Höflichkeit überhörte Rebi Abi die Frage und wandte sich an mich: »Wie geht’s dir?«
»Gut, Rebi Abi.«
»Du hast sie gestern gefunden. Das haben sie mir auf dem Präsidium erzählt.«
Dass die Luft auf einmal nach Mord roch, war nichts, was meine Mutter ertragen konnte. Als stünde sie vor der Leiche, die Rebi Abi mit einem »sie« angedeutet hatte, sprang sie voller Entsetzen auf die Füße. »Dann geh ich mal einen Mokka machen.«
»Prima Idee«, brummelte mein Vater.
»Es will mir einfach nicht ins Hirn«, sagte Rebi Abi und nahm seinen Kopf zwischen die Hände. »Wie ist das möglich?« Als könnte er die Geschehnisse rückgängig machen, wenn er sich davon überzeugte, wie unlogisch das alles war.
»Zermartere dir nicht den Kopf«, meinte mein Vater. »Das führt zu nichts.«
»Was kann der verrückte Ertan von meinem Vater gewollt haben?«
Es war weder der Ort noch die Zeit, meine Zweifel an der Identität des Täters zur Sprache zu bringen. Deshalb hielt ich meine Klappe.
»Der arme Junge«, murmelte Rebi Abi mit Blick auf mich. »Sein ganzes Leben nun …« Zu sagen, keine Sorge, das juckt mich nicht, kam mir nicht über die Lippen. »Habt ihr neben meiner Aussage noch etwas bei der Polizei in Erfahrung bringen können?«, fragte ich.
Rebi Abi zuckte mit den Schultern. »Sie haben versucht, aus dem Verrückten herauszukriegen, warum er den Mord begangen hat, aber das brachte wohl nichts. Wahrscheinlich wird er nach dem Prozess gleich in eine Anstalt für Geisteskranke gebracht, meinte der Staatsanwalt. Der hatte auch nicht zugelassen, dass er zur U-Haft ins Gefängnis kommt, weil er ja nicht alle Sinne beisammen hat. Bis zum Gerichtstermin wird man ihn auf der Wache in Polizeigewahrsam nehmen. Und nach einem Jahr Therapie lassen sie ihn dann bestimmt frei. Könnt ihr euch das vorstellen?«
Aber wirklich, wo man ihn doch lynchen könnte!
Weitere Kostenlose Bücher