Söhne und siechende Seelen
antwortete ich.
»Das würde bedeuten, dass er den verrückten Ertan selbst hereingelassen hat. Weißt du, ob es etwas gibt, weswegen der verrückte Ertan wütend auf Hicabi Bey gewesen sein könnte?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich, dass er Ertan ein paar Mal zur Schnecke gemacht hat, aber das hat Hicabi Bey mit jedem gemacht.«
»Was heißt zur Schnecke machen? Hat er zum Beispiel geschlagen?«
»Aber nein. Er schrie bloß rum, mach dies nicht, tu das nicht. Wenn man mich fragt, hat er nicht einmal gemerkt, dass er schreit. Hicabi Bey war ziemlich schwerhörig.«
»Gibt es denn noch etwas, das die beiden für dich verbindet?«
Ich dachte einen Augenblick nach. »Ja. Sie waren beide verrückt.«
Als der König der Detektive meine Meinung über den ehemaligen Ordnungshüter vernahm, hielt er beim Schreiben inne und blickte seinem Vorgesetzten in die Augen, ob er mich wohl festnehmen sollte, doch als er sah, dass der Kommissar lachte, grinste er wie ein Honigkuchenpferd. Um mein Glück noch ein wenig auszureizen, fügte ich hinzu: »Beide waren harmlose Verrückte.«
Onur Çalışkan kratzte sich am Kopf. »Ich kenne den Toten nicht, aber dass man den anderen nicht als harmlos bezeichnen kann, liegt auf der Hand.«
»Ich glaube nicht, dass der verrückte Ertan zu so etwas fähig ist«, sagte ich.
»In der Tat, Ertan würde keiner Fliege etwas zu Leide tun«, bestätigte mein Vater.
»Das zu beurteilen dürfte schwierig für euch sein«, meinte der geniale Schnüffler und fuchtelte mit seinem Stift vor der Nase meines Vaters herum. »Was wir hier schon für Leute erlebt haben und was sie alles angestellt haben.«
»Erzählt mir ein bisschen von diesem verrückten Ertan«, bat Onur Çalışkan. »Seit wann lebt er in eurer Nachbarschaft? Hat er irgendwelche Angehörigen?«
»Es ist jetzt mehr als zwei Jahre her, dass wir in dieses Viertel gezogen sind, und der verrückte Ertan spazierte schon immer dort herum«, sagte mein Vater. »Er ist ein armer Kerl. Soweit ich weiß, hat er niemanden. Er führt Selbstgespräche und rennt die ganze Zeit herum und guckt dabei durch die Gegend. Im Sommer lebt er auf der Straße, im Winter unter Verschlägen. Die Leute aus dem Viertel geben ihm alte Klamotten und ein bisschen was zu essen. Bisher habe ich noch nie gesehen, dass er ausgeflippt wäre. Er ist sowieso ein Riesenangsthase. Man braucht nur Piep zu sagen, und schon sucht er nach einem Schlupfloch.«
»Das stimmt«, sagte ich. »Er hat sogar Angst vor uns Kindern. Meine Freunde, diese Halunken, schikanieren ihn ganz schön. Wenn er jemanden umbringen wollte, dann kämen Celal der Hänfling und Cemalettin noch lange vor Hicabi Bey.«
»Ist dir irgendetwas aufgefallen, bevor das Fenster zu Bruch ging? Jemand, der bei Hicabi Bey hineinging oder herauskam, oder eine verdächtige Person, die dort herumlief?«
»Natürlich!«, rief ich. »Dass ich nicht schon früher daran gedacht habe!«
»Was? Was?«, fragte der Kommissar und beugte sich zu mir herüber.
»Ich denke, es war so fünfzehn, zwanzig Minuten, bevor es passierte. Ich sah, wie jemand aus der Richtung davonlief.«
»Wie sah er aus?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich habe ich vorher Schritte gehört. Dann ging er ins …«
Der junge Polizist war vollkommen aufgeregt. »Sag schon, Junge. Wohin ging er?«
Wie ein Blitz schoss mir durch den Kopf, welche Konsequenzen meine Aussage haben würde. Würde ich das Güzelyayla nennen, wäre Gazanfer mit ziemlicher Sicherheit angeschissen. Zweifellos würde ich unbändige Freude empfinden, wenn die Polizei ihm eine ordentliche Abreibung verpasste, aber ich wollte auch keinen Unschuldigen ans Messer liefern. Andererseits gab es in diesem Moment keine andere Möglichkeit, um den Verdacht wenigstens ein bisschen von dem verrückten Ertan abzulenken. Also fasste ich meinen Entschluss: »Ich glaube, ins Güzelyayla. Aber ganz sicher bin ich mir nicht.«
»Sag die Wahrheit. Kennst du diese Person?« Der Kommissar erhob sich und beugte sich über mich. Er dachte wohl, er könnte moralischen Druck auf mich ausüben. Aber er konnte Druck ausüben, so viel er wollte, mir war das vollkommen schnuppe. Was mir zusetzte, war der innere Kampf in mir.
Mein Vater hielt den hitzigen Polizisten an der Schulter. »Bleiben Sie ruhig, Herr Kommissar. Der Junge erzählt doch alles, was er weiß.«
Er musste wohl eingesehen haben, dass er Unsinn verzapft hatte, denn Onur Çalışkan nahm mit einer Entschuldigung wieder
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