Söhne und siechende Seelen
Schläfenhaar in der Luft schwebend vorstellte, hatte verdammte Ähnlichkeit mit Hasan Amca, dem Nachbarn über uns. Warum das so war, hatte ich kurz zuvor verstanden. Mein Vater hatte von Gott gesprochen und dabei erwähnt, dass er da oben lebte. Und da oben lebte für mich Hasan Amca. Warum aber Hasan Amca und nicht etwa Sevim Teyze? Wegen der herrschenden patriarchalischen Kultur? Wie wurden diese Dinge in unsere Hirne verpflanzt? Abrupt zog ich mir die Decke über den Kopf, hielt mir den Revolver an die Schläfe und drückte ab. Ich verspürte ein süßes Pochen in meinem Schädel. Der körperliche Schmerz vertrieb all meine Gedanken. An mehr kann ich mich nicht erinnern.
vier
der soziopath im büro
Als ich am nächsten Tag erwachte, war es bereits Mittag. Sofort begab ich mich ins Wohnzimmer und warf einen kontrollierenden Blick auf die Straße. Es war nichts Auffälliges zu bemerken. Ich hob den Kopf und sah zu Hicabi Beys Wohnung hinauf. Die Scheiben waren zerbrochen. Was ich tags zuvor erlebt hatte, war also tatsächlich wahr. Was immer »wahr« auch bedeutete. Ich frühstückte auf die Schnelle und ging dann hinunter. Ich musste so bald wie möglich meine Jungs finden. Da sie nirgends zu sehen waren, waren sie entweder bei Cemalettin oder bei Yüksel im Garten. Ich war offen gestanden nicht allzu erpicht darauf, das Güzelyayla zu betreten. Schnurstracks begab ich mich also an die andere Adresse. Yüksels Vater war Fotograf. Künstler war er allerdings nicht, vielmehr stand er den ganzen Tag in seinem klitzekleinen Studio und machte Passbilder. Sie wohnten in dem zweistöckigen Einfamilienhaus in der Hauptstraße, mit der sich unsere Straße rechtwinklig kreuzte. Ihr Garten war super gepflegt und überwuchert mit wildem Wein, Geißblatt und jeder Menge anderer Pflanzen. Vor allem der Hohlraum unter der Eingangstreppe bot einen vorzüglichen Platz für Zusammenkünfte. Deshalb benutzten wir ihn bei unseren Stadtteilkämpfen auch als Stützpunkt. Ich sprang über das Tor und drang in den Garten ein. Der Hänfling, Hakan und Yüksel saßen unter der Treppe. Hakan trug seine Schuluniform. Seinen Ranzen hatte er in eine Ecke geworfen. Er war also direkt von der Schule hierher gekommen. Ich trat zu ihnen und sagte: »Hallo.« Natürlich versäumte ich nicht, Hakan einen speziellen Gruß zukommen zu lassen: »Wie steht’s mit Oya und Kaya?«
Hakan verzog sein Gesicht. »Ach, frag bloß nicht. Die Lehrerin hat uns wieder einen Haufen Hausaufgaben gegeben.«
Er nahm schon Anlauf, um genauere Informationen bezüglich der Thematik seiner Hausaufgaben zu geben, als ich ihm das Wort abschnitt: »Um Himmels Willen, verschone mich!«
»Hicabi Amca ist gestern umgebracht worden«, sagte Celal der Hänfling. »Du kriegst wohl gar nichts mit.«
»Ich weiß«, erwiderte ich, »ich war dort, als man ihm die Kehle durchschnitt.«
Hakan richtete seine von Natur aus weinerlichen Augen auf mich. Yüksel meinte mit seiner wie stets erkälteten, heiseren Stimme: »Was?«
Celal der Hänfling musste natürlich eine Extrawurst braten. »Kommt, Jungs, lasst doch den Schwätzer«, meinte er lachend. Dennoch war ich sicher, dass meine Worte auch ihn äußerst neugierig gemacht hatten.
»Ich sage die Wahrheit«, entgegnete ich. »Wir waren gestern die ganze Nacht mit meinem Vater auf der Wache.« Mir war klar, dass ich mit dieser Äußerung einen Fehler gemacht hatte, aber ich hatte mich gegen den Wunsch, ordentlich auf den Putz zu hauen, einfach nicht wehren können. Wenn ich schon damit herausgeplatzt war, dann sollte ich es wenigstens genießen, dachte ich mir. Ich brach einen dünnen Zweig von dem Götterbaum neben mir ab, klemmte ihn mir zwischen die Zähne, setzte mich mit langsamen Bewegungen auf der steinernen Stufe neben der Treppe nieder und ließ meinen Blick in die Ferne schweifen. Ich platzte fast, so aufgeblasen war ich. Nachdem ich sie alle um mich geschart hatte, erzählte ich ihnen, was vorgefallen war. Natürlich unter Umgehung des Kapitels über den geheimnisvollen Fremden. Das Risiko, dass die Geschichte Gazanfer zu Ohren kommen könnte, konnte ich noch nicht eingehen.
Nachdem ich meinen Bericht beendet hatte, waren alle recht nachdenklich. Sie beneideten mich wohl ein wenig wegen meiner Erlebnisse.
Yüksel war der erste, der das Schweigen brach: »Seht euch diesen verrückten Ertan an, Mann! Erledigt den Typen mit einem Schnitt!«
»Das kann ich auch nicht begreifen«, meinte der Hänfling, der auf einer
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