Söhne und siechende Seelen
geballter positiver Energie war ich geworden. Ich war bereit, die Welt in die Knie zu zwingen.
Bevor sie wegging, machte meine Mutter zwar Anstalten, Rebi Abi zu wecken, doch mein Vater hielt sie auf: »Lass den Jungen schlafen.« Daraufhin schrieb meine Mutter ihm eine Nachricht und klebte sie an die Wohnungstür:
Geh nicht ohne Frühstück aus dem Haus, Junge. Alles liegt in Gottes Händen. Alles liegt im Kühlschrank. Zieh die Tür dreimal fest ins Schloss. Geh mit Gott, Junge
. Nachdem meine Mutter hinausgegangen war, entfernte ich die Notiz unauffällig und steckte sie in meine Hosentasche. Allerdings ohne sie zu zerreißen. Vielleicht würde ich dieses Dokument eines Tages an den Weltkongress für Psychiatrie schicken, damit all die versteckten Bedeutungen analysiert wurden und das Dokument die ihm gebührende Wertschätzung erfuhr.
Wir machten uns gemeinsam auf den Weg. Nach etwa zehn Minuten Fußmarsch kamen wir an der Brücke an, die die Ankara-Asphalt-Straße am weiß der Geier wievielten Kilometer überspannt. Wir stiegen eine einfache Treppe zur Asphalt hinunter und begannen am Straßenrand auf den Mitarbeiterbus zu warten. Es dauerte nicht lange, bis der schwarze Minibus anhielt. Sobald sich die Tür geöffnet hatte, schlug mir – vom Mundgeruch des Amtspersonals geschwängerte – mindestens vierzig Grad heiße Luft entgegen. Die Leute auf der Rückbank quetschten sich ein wenig zusammen und machten so Platz für meine Eltern, ich setzte mich auf den Radkasten. Die meisten der Passagiere versuchten, ihren auf der Strecke gebliebenen Schlaf nachzuholen, die übrigen zogen lange Gesichter. Der Einzige, der eine unsinnige Hyperaktivität an den Tag legte, war der Zimmergenosse meiner Mutter, Süreyya Bey. Er hatte den Abteilungsleiter Sedat Bey ans Fenster gequetscht und erklärte ihm überschwänglich, warum es keinen besseren James Bond gab als Sean Connery. Sanftmütig bestätigte Sedat Bey alles, was er sagte, aber ich war mir sicher, dass er den Typen am liebsten erwürgt hätte. Das trostlose Lied, das gedämpft aus dem Radio ertönte, machte die ohnehin kranke Atmosphäre noch unerträglicher. Durch den Innenspiegel betrachtete ich den Fahrer Mutullah. Er war ein grobschlächtiger Typ, furchteinflößend, mit hart dreinblickenden blauen Augen. Den Erzählungen meines Vaters zufolge war er eigentlich Fernfahrer und verbrachte die meiste Zeit des Jahres damit, mit dem LKW in den Osten und wieder zurück zu fahren. Hin und wieder vertrauten sie ihm den Shuttlebus an, damit er möglichst durchgehend beschäftigt war. Nie legte er seine braune Lederjacke ab. Er redete nur selten, und wenn er redete, dann legte er ein hasserfülltes Gebaren an den Tag, weil man ihn zum Reden genötigt hatte. Diese Haltung stand ihm gut zu Gesicht. Er war der Typ einsamer Mann. Im Gegensatz zu den anderen beachtete er mich nicht weiter und war auch nie erstaunt über das, was ich so von mir gab. Ich empfand Respekt ihm gegenüber. So war das. Während sich unter der Führung des charismatischen Kapitäns Mutullah Akçabey ein Minibus voller gescheiterter Leben mit durchschnittlich siebzig Stundenkilometern auf die Folterkammer zubewegte, in der sie sich zwischen eingehender und ausgehender Post noch ein wenig mehr zerreiben sollten, träumte Sean Connery bei seinem Matratzenhorchdienst noch immer von der Kokain- und Sexparty, die er nachts zuvor auf seinem Schloss organisiert hatte.
An der Grünanlage des Amts stiegen wir aus. Meine Mutter verabschiedete sich von uns, um in das neue Gebäude zu gehen, in dem sie arbeitete. Mein Vater und ich schlugen die Richtung des großen Lagers ein, in dem sich die riesigen Transportfahrzeuge befanden. An den Tagen, an denen ich mit meinem Vater ins Büro ging, sprang ich, während er in seiner Amtsstube arbeitete, in aller Regel auf den Lastwagen, Transportern und Lieferwagen herum und spielte ein dämliches Brummifahrer-Spiel. Doch heute tat ich das nicht. Ich zog mich mit meinem Vater in sein Büro zurück und setzte mich an die Schreibmaschine, in der Hoffnung, eine, zwei schöne Zeilen zu Papier zu bringen.
Ich hör Descartes mit geschlossenen Augen / Entweder küsst mich die Muse oder trifft mich der Schlag
… Was letzten Endes dabei herauskam, war ein solcher, sich fortsetzender Unfug eben. Leider hielt sich die Muse wie stets von mir fern.
Gerade hatte ich das Blatt, auf das ich mein Werk geschrieben hatte, in fünfhundertzwölf Teile zerrissen, als mein Vater fragte:
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