Söhne und siechende Seelen
»Ich habe etwas in der Druckerei zu erledigen. Willst du mitkommen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na dann nicht. Wenn ich bis mittags nicht zurück bin, gehst du mit deiner Mutter essen.«
»Ich weiß, wo die Kantine ist.«
»Sag Kerim Bescheid, wenn du etwas haben möchtest.«
»Okay, mach dir keine Sorgen.«
Als ich allein im Raum war, warf ich all die Papierschnipsel, die auf dem Schreibtisch lagen, in den Papierkorb und atmete die feuchte Luft tief ein. Ich dachte an die Aufgabe, die ich zu erledigen hatte. Sie war riskant, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich fühlte mich allerdings noch nicht zum Startschuss bereit. Ich entschied mich, noch ein wenig Zeit im Büro zu vertrödeln. Um die Welt einmal von dieser Warte aus zu betrachten, setzte ich mich in den Sessel meines Vaters. Auf dem kleinen Beistelltisch rechts stand ein Computer mit schwarz-weißem Bildschirm aus der Steinzeit. Ich war mir sicher, dass er zu nichts taugte. Sie hatten ihn einzig dort hingestellt, um die Modernisierung in den Ämtern zu demonstrieren. Von dem Kleinkram auf dem Schreibtisch war ein Teil deprimierender als das andere. Eine braune Schreibunterlage, ein Schreibset, ein Messingschild mit dem Namen meines Vaters … Am traurigsten aber war das Foto, das er unter die schwere Glasplatte auf dem Schreibtisch gezwängt hatte. Das Foto eines dreijährigen Wonneproppens. Eines unheimlichen Kindes, das in gestreiftem T-Shirt und einer Nummer zu großen Shorts an einem offenen Fenster auf einem Stuhl sitzt und mit düsterem Blick förmlich die Welt außerhalb des Fotos zu beobachten scheint. Das war ich. Ich erstickte beinahe. Ich weiß nicht, wie ich es hinaus schaffte.
Gerade als ich das Lager betrat, tauchte Kerim vor mir auf. »Wolltest du zu deiner Mutter?«, fragte er und versuchte dabei vergeblich, den Kragen seines falsch zugeknöpften blauen Arbeitskittels zurechtzuziehen.
Mein Vater hatte mich offensichtlich seiner Obhut anvertraut. Na klasse. Wem er wohl Kerim anvertraut hatte? »Ich gehe in den Garten, um ein bisschen frische Luft zu schnappen.«
Plötzlich machte Kerim ein langes Gesicht. Er wusste, was er tun musste, wenn ich etwas trinken, auf die Toilette oder zu meiner Mutter gehen wollte, aber in dieser Situation, die außerhalb seines Reiz-Reaktions-Schemas lag, war er vollkommen ratlos. Hilflos streckte er die Hände seitlich von sich und murmelte etwas Unverständliches.
»Lass uns zusammen herumlaufen, wenn du nichts zu tun hast«, sagte ich, um den Armen nicht noch länger zu peinigen. Immerhin war sein Organismus das Denken nicht allzu sehr gewöhnt.
Er sah sich um und kratzte sich am Kopf. »Okay«, sagte er verunsichert.
Wir gingen hinaus und bewegten uns in Richtung neues Gebäude. Wir hatten gerade einmal fünfzehn, zwanzig Schritte gemacht, als die Frage kam, die ich schon erwartet hatte: »Wann fängst du mit der Schule an?«
»Ich werde nicht zur Schule gehen.«
Kerim lachte über meine Naivität. »Was soll das denn heißen, nicht zur Schule gehen? Natürlich gehst du zur Schule, damit du ein Mann wirst.«
»Bist du denn kein Mann?«
»Klar bin ich ein Mann, aber …«
»Ach, lassen wir das jetzt, Kerim Abi«, sagte ich. »Sag du mir lieber, für welche Partei du bist.«
Erstaunt sah er mich an. Ich glaube, er fragte sich, ob ich vielleicht ein Spion der Verwaltung sei. Er erhob seinen Kopf und sagte: »Für die Brotpartei.«
»So eine Partei gibt es nicht«, gab ich zurück.
Daraufhin änderte er seine Meinung: »Ich bin für gar keine Partei.« Und so einer soll eine Revolution machen? Das möchte ich erleben.
»Gut, aber bist du links oder rechts?«
»In unserer Philosophie gibt es kein links oder rechts.«
Philosophie? »Was gibt es denn in deiner Philosophie, Kerim Abi?«
Endlich war er mit einer Frage konfrontiert, deren Antwort er parat hatte, und verkündete freudig: »Ich heiße Kerim und bin gesund, lebe von der Hand in den Mund, und was morgen kommt, weiß der liebe Gott!«
Ach du guter alter Marx, erhebe dich aus deinem Grab und sieh dir an, was aus der Dialektik werden kann! Inzwischen waren wir an dem neuen Gebäude angekommen. »Ich gehe rauf zu meiner Mutter«, sagte ich, »danke, dass du mich hergebracht hast.«
Kerim schien erleichtert, weil er seine Aufgabe ordnungsgemäß ausgeführt hatte und von mir erlöst war. »Na dann los. Ich sag deinem Vater Bescheid, dass du bei deiner Mutter bist«, sagte er, dann marschierte er mit einem Volkslied über Ziegen und
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