Söhne und siechende Seelen
Schafe auf den Lippen von dannen.
Auf der Treppe nahm ich immer zwei Stufen auf einmal und betrat dann das Gebäude. Sofort sprang ich in den Aufzug und drückte auf den Knopf für die vierte Etage, nicht etwa für die dritte, wo das Büro meiner Mutter lag. Als ich meinen Fuß in die vierte Etage setzte, die ich zuvor nur selten aufgesucht hatte, begann mein Herz schneller zu schlagen. ›Das ist Wahnsinn‹, sagte eine innere Stimme zu mir, ›du wirst alles nur noch schlimmer machen.‹ Trotzdem betrat ich den Flur und begann, die Namensschilder an den Türen zu lesen. Den von mir gesuchten Namen entdeckte ich auf einer weitaus protzigeren und größeren Tür:
Erdoğan Ş. Baykurt, Direktor
. Damit ich es mir nicht anders überlegte, klopfte ich sofort kräftig an die Tür. Keine Reaktion. Ich klopfte noch einmal. Wieder keine Reaktion. Wenn ich schon einmal hier war, hatte ich nicht die Absicht, mit leeren Händen zurückzukommen. Ich öffnete die Tür und ging hinein. Der Herr Direktor war nirgends zu sehen. Das Büro war weitaus größer als das meines Vaters. Natürlich verfügte es auch über einen größeren Schreibtisch und einen fetteren Sessel. An den Fenstern befanden sich anstelle der Jalousien geschmacklose braune Vorhänge und auf dem Boden ein hier und da verfleckter beschissener Teppich. Ich trat an den Tisch und warf einen Blick auf das Papier, das auf der Schreibunterlage lag. Es war die Liste derer, die durch die Prüfung am Tag X das Recht erworben hatten, als Beamte anzufangen. Den obersten Namen kannte ich von irgendwo her:
Tuğrul Tanır
. Na klar, dachte ich, das war der nichtsnutzige Kumpel dieses Trottels, mit dem Erdoğan Bey an meinem Geburtstag geplaudert hatte. Ihr widerliches Geklüngel hatte also Früchte getragen.
In dem Augenblick ertönte hinter mir eine ermattete Stimme: »Frohes Schaffen, junger Mann!«
Reflexartig machte ich einen Schritt zurück. Erdoğan Bey trat hinter seinen Schreibtisch und warf den Zettel in eine Schublade. Nachdem er in den fetten Sessel seinen noch fetteren Arsch gezwängt hatte, zog er die Augenbrauen zusammen und musterte mich von oben bis unten. »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
Ich sagte gar nicht. Ich wollte den Start nicht vermasseln.
»Geh und setz dich dort hin«, sagte er und zeigte auf die niedrigen Sessel vor seinem Schreibtisch. »Ich bestell dir mal einen Saft.«
Ich setzte mich in einen der Sessel. Er war zwar weich, aber dennoch fühlte ich mich ausgesprochen unwohl darin. »Nicht nötig«, sagte ich. »Wenn Sie ein wenig Zeit hätten, würde ich gern etwas mit Ihnen besprechen.«
Ein ekelhaftes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er hatte ganz genau verstanden, worum es ging. »Na, wie läuft die Arbeit in der Hölle?«, fragte das nachtragende Arschloch.
»Alles beim Alten. Wir warten sehnlichst auf Sie.« Schlechte Starts waren schon immer mein Schicksal. Trotz seiner selbsttönenden Brille konnte ich erkennen, wie er die Augen verdrehte. Wie hatte er sich bloß in die Idee eines Wortgefechts mit mir verlieben können? Oder war ich etwa in die Vorstellung verliebt, ihn rot werden zu lassen?
»Warum bist du hergekommen?«, zischte er hasserfüllt.
Hunderte von Antworten kamen mir in den Sinn, die er verdient gehabt hätte, aber es machte wenig Sinn, den Typen noch mehr zur Weißglut zu bringen. Vor allem, wenn man in der Position des Bittstellers an seiner Tür geklingelt hatte. »Um über die Versetzung meines Vaters zu sprechen«, sagte ich und senkte meinen Kopf so, wie ich hoffte, dass es ihm gefallen würde.
»Jetzt ist alles klar«, erwiderte er herablassend. Er steckte sich eine Zigarette an und blies mir den Rauch ins Gesicht. »Dein Vater hat dich also hergeschickt, um Mitleid zu erregen.«
Nun war es an mir, rot zu werden. Solche Typen fanden immer einen Weg, einen in noch peinlichere Situationen zu stürzen, als man befürchtet hatte. Trotzdem unterdrückte ich meine Wut. Aus Achtung vor meinem Vater sagte ich mit gekünstelter Ruhe: »Mich hat niemand hierher geschickt. Weder mein Vater noch meine Mutter wissen, dass ich hier bin.«
»Erzähl keine Märchen, Junge«, sagte er mit erhobener Stimme. »Das haben wir lange hinter uns.«
Vielleicht würde ein Wunder alles verändern, dachte ich und schluckte. »Wenn mein Vater es gewusst hätte, hätte er mir niemals erlaubt, herzukommen. Ich bitte Sie, schicken Sie ihn nicht nach Erzurum. Es ist sowieso alles sehr schwer für ihn. Er richtet
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