Söhne und siechende Seelen
sich zugrunde für mich. Für meine Erziehung …«
»Wann wurde Istanbul erobert?«, mit dieser Frage unterbrach er mich abrupt.
Ich war völlig verdutzt. War das ersehnte Wunder etwa wahr geworden? Würde er die Versetzung meines Vaters zurücknehmen, wenn ich die korrekte Antwort gab? Bestimmt handelte es sich um eine Fangfrage. Ich musste genau nachdenken. »Istanbul wurde viele Male erobert«, stammelte ich. »Welche Eroberung meinen Sie denn?«
Erdoğan Bey schüttelte den Kopf. »So erziehen Leute wie dein Vater ihre Kinder. Du verstehst es, mit deiner großen Klappe immer das letzte Wort zu haben, aber von der glorreichen Geschichte deiner Nation hast du keinen blassen Schimmer.« Ich durfte ihm auf keinen Fall auf den Leim gehen. Ich musste mich auf die Frage konzentrieren. Die Eroberung Istanbuls … Mit Sicherheit war das eine Fangfrage. Bestimmt meinte er die erste. Aber er redete weiter: »Geh und sag deinem Vater, anstatt sich mit solch billigen Tricks Hoffnungen zu machen, sollte er lieber die Verantwortung für seine Arbeit übernehmen und versuchen, seines Volkes und Vaterlandes würdig zu sein.«
Ich schloss meine Augen. Mir zerplatzte schier der Schädel. Es hatte keinen Zweck, darüber nachzudenken, wie sehr ich mich und meinen Vater erniedrigt hatte, um bei diesem widerlichen Typen Gnade zu erwecken. Und was für ein Dummkopf ich war. Ich musste die richtige Antwort finden. Ich spürte, dass ich ihr immer näher kam.
»Auch da, wo er hingehen wird, soll er auf der Hut sein. Er sollte seinen Platz kennen und auf keinen Fall über den Staat oder seine Vorgesetzten herziehen. Nicht alle sind so gnädig wie ich. Zack, und er ist …«
»1204!«, schrie ich und sprang auf die Füße. »Während des vierten Kreuzzugs!«
Erdoğan Bey zog eine Akte aus seiner Schublade und knallte sie auf den Schreibtisch. »Die Versetzungspapiere deines Vaters. Eigentlich wollte ich sie nächste Woche nach Ankara schicken, aber nun habe ich meine Meinung geändert.«
Ich konnte es tatsächlich nicht glauben. Ich hatte es geschafft. Ich hatte den gordischen Knoten gelöst. Meine Augen waren erfüllt von Stolz und Dankbarkeit. »Ich danke Ihnen, mein Herr.«
Der Herr Direktor vergrub seine Kippe im Aschenbecher. »Ich werde sie sofort absenden, damit sie euch so schnell wie möglich nach Erzurum schicken.«
fünf
die hohle staatsgewalt
Sobald meine lieben Eltern am nächsten Morgen das Haus verlassen hatten, sprang ich aus meinem Bett, in dem ich die ganze Nacht mit Skorpionen und Kakerlaken gekämpft hatte. Ich wollte so schnell wie möglich hinaus auf die Straße, aber die Regenschauer schienen das wenigstens für die nächsten paar Stunden nicht zuzulassen. Ich nutzte diese Zeit unter dem Diwan, um dann wieder einen Kontrollblick aus dem Fenster zu werfen. Leider schüttete es immer noch wie aus Eimern. Man konnte nicht auf die Straße, ohne in Kauf zu nehmen, bis auf die Knochen nass zu werden. Ich hatte keine andere Wahl, als zu Hause herumzuhängen. Die Zeitung, die ich morgens nur überflogen hatte, nahm ich mir nun genauer vor. Gleich neben der Seite, auf der in einer Anzeige zu lesen war, dass heute im Anschluss an das Freitagsgebet Hicabi Beys Trauergebet und Bestattung stattfinden würden, stand in einer Meldung, dass das Klonen von Menschen kurz bevorstünde. Ob seine Söhne nach der Lektüre dieser Nachricht wohl auf die Idee kämen, dem Vater, bevor sie ihn auf seine letzte Reise schickten, eine Extremität zu entfernen? Hunderttausende kreischende dreieinhalbjährige Hicabi Beys, die die Bonbon- und Kaugummibestände in Yakups Krämerladen plünderten, tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen abartigen Fantasien. »Hallo?«
»Hallo?«
Das Zischen, das dieses Wort begleitete und das nervenschwachen Gemütern so eigen ist, kannte ich nur zu gut. »Eingeschnappte Leberwurst?«
Ein kurzes Zögern am anderen Ende. »Hallo? Ich bin’s, Hakan.«
»Guten Tag, Hakan. Wie geht es dir?«
»Nicht schlecht. Und dir?«
»Sehr gut«, antwortete ich. »Sie haben angefangen, Menschen zu klonen.«
»Das freut mich.« Was immer ihn erfreute. »Soll ich vorbeikommen?«
»Ich habe eigentlich vor, rauszugehen, sobald der Regen nachlässt. Ich will mich klonen lassen.«
Er war natürlich sofort beleidigt. »Ich meinte ja nur, falls du mich vielleicht brauchst.«
»Aber klar brauch ich dich. Wer, wenn nicht du, könnte mir die Chaostheorie
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