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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
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gesagt, um ihn zu bestätigen, meinte er in höchst pädagogisch wertvoller Pose: »Natürlich ist Gehorsam für die Führung einer Kompanie unverzichtbar.« Bestimmt war er mit seinen Gedanken anderswo.
    »Auf dem Friedhof waren so viele Leute um dich herum, da konnten wir nicht reden«, sagte ich hinunter zu dem oben kahl werdenden Kopf des Riesenkerls, der aussah, als würde er mir zu Füßen liegen, während er sich um mein Knie kümmerte. »Mein aufrichtiges Beileid.«
    Mit einem zerstreuten Kopfnicken nahm er meine Beileidsbekundung an.
    »Hat sich Rebi Abi ein wenig erholt?«
    Mit Plattitüden wie »Er wird sich erholen. Man kann es ja nicht ändern. Schließlich werden wir alle eines Tages diesen Weg gehen« ließ er mich abblitzen. Er wollte das Thema beenden. Das war verständlich und sicher auch ein sehr viel ehrenwerteres Verhalten als das von Rebi Abi, doch hatte Şemi Abi bei mir den Eindruck erweckt, als versuchte er zu verbergen, wie sehr der Tod seines Vaters ihn eigentlich betrübte. Und dies nicht, um mich an der Nase herumzuführen, sondern aus Gewohnheit.
    Er war fertig und richtete sich auf. »Ich lasse die Wunde offen. An der Luft heilt sie schneller ab. Sieh nur zu, dass du dir keine Bakterien einfängst.«
    »Danke.«
    »Der Mann, den du gesehen hast, als er von hier wegrannte …« Bei den Worten wurde ich hellhörig. Ich lauschte gespannt. »Sah der ein bisschen aus wie He-Man?«
    Zuerst verstand ich wirklich nicht. Wohlwollend lotete ich verschiedene Möglichkeiten aus: posttraumatisches Stresssyndrom, Manie, akuter Psychoseanfall und Ähnliches … Nein, nichts davon traf zu. Mit seinem bisschen Grips versuchte er mich reinzulegen. Unter Verwendung dieses Trottels namens He-Man wollte das Spatzenhirn meine Fantasie ankurbeln, und ich würde Gott weiß was für Geschichten über meinen imaginären Verdächtigen erzählen. So würde er mir entlocken, dass meine Aussage, ich könnte keine Personenbeschreibung abgeben, gelogen war. Verblüfft begriff ich, dass nichts eindimensional war und sogar Schwachsinn sich auf einer genialen Ebene bewegen konnte. »Ja, genau«, antwortete ich aufgeregt. »Er hatte hellblonde Haare. Und an seinem Hintern baumelte ein ganz spitzer Schwanz.«
    Für einen kurzen Moment hatten seine Augen aufgeleuchtet, doch dann erkannte er – an meinem Gesichtsausdruck? –, dass seine Bemühung erfolglos geblieben war. Mit seinem Finger zeigte er auf das Telefon mit Wählscheibe von anno Tobak, das auf dem kleinen Beistelltisch in der Ecke stand, und meinte: »Es wäre gut, wenn du zu Hause anrufst. Wenn deine Eltern zurück sind, könntest du auch heimgehen.« Dann hob er das Verbandzeug vom Boden auf und verließ das Zimmer.
    Ich tat wie geheißen und ging zum Telefon. Ich wählte unsere Nummer und wartete. Dabei blieb mein Blick an dem Bücherregal aus zwei Brettern hängen, das knapp über dem Tischchen an die Wand genagelt war. Darauf aufgereiht standen mehr einander an Hässlichkeit überbietende Nippesfiguren als Bücher. Ich ging davon aus, dass der Verstorbene nicht gerade über einen entwickelten literarischen Geschmack verfügt hatte, aber trotzdem begannen meine Augen aus Gewohnheit über die Bücherrücken zu gleiten. Zwischen Bänden einer populärwissenschaftlichen Reihe aus einer Zeitungswerbeaktion, einigen Agatha-Christie-Krimis und lausigen Büchern über Persönlichkeitsentwicklung fanden sich durchaus interessante Werke.
    »Hallo?«, meldete sich meine Mutter mit ihrem üblichen Tonfall, der einen denken ließ, ihr Ableben stünde kurz bevor.
    »Ich bin’s, Mama.« Drei Bände einer uralten Auflage der Reihe
Pardayanlar
von Michel Zévaco.
    »Wir haben in allen Krankenhäusern und Polizeistationen angerufen! Wo warst du die ganze Zeit?«
    »Ich bin bei einem Freund. Ich rufe an, um zu hören, ob ihr zurück seid.« Ein zerfledderter Jean-Jacques Rousseau:
Emile oder über die Erziehung
.
    »Wir sind seit zehn Stunden zurück. Komm nach Hause, ich hab dich einiges zu fragen.«
    »Das bringt nichts. Du verstehst meine Antworten sowieso nicht.« Vehbi Durmuş:
Das Dorf Durak: Traditionen, Überlieferungen, Ahnen
. Interessant.
    »Komm schleunigst nach Hause«, forderte meine Mutter unter Tränen, bevor sie auflegte.
    Bei dem Gedanken, mich zu Hause auch noch mit meiner Mutter auseinandersetzen zu müssen, bekam ich Beklemmungen. Um den Titel eines schön eingebundenen alten Buches lesen zu können, schob ich einen Porzellanesel beiseite und entdeckte

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