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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
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sich in der bestmöglichen Position, um mir wieder den Eintritt in die normale Welt zu gewähren. Befand ich mich erst einmal auf der Straße, war es nur noch eine Kleinigkeit, in einem strammen Sprint von wenigen Sekunden unser Haus zu erreichen. Ich tastete in meiner Tasche nach meinem Schlüssel, zog meinen Revolver und kletterte durchs Fenster. Eigentlich stand die Tür offen, aber so war es spannender. In Vorfreude darauf, in Kürze in mein warmes Heim und zu meinen neurotischen Eltern zurückzukehren, stieg ich hinauf ins Erdgeschoss. Doch das grausame Schicksal hatte nicht die Absicht, mich laufen zu lassen. Gerade als ich meine Hand nach der Haustür ausgestreckt hatte, öffnete sie sich von selbst, und ich sah mich im Angesicht eines Riesen, der zwei vollgestopfte Einkaufstüten schleppte.
    »Du!« Şemi Abis Gesichtsausdruck erinnerte eher an Wut denn an Erstaunen. Ich fühlte mich, als hätte man mich nach einem Verbrechen geschnappt, auf das die Todesstrafe stand. Aufgeregt stammelte ich ein paar unverständliche Worte. »Was hast du hier zu suchen?«, fragte Şemi Abi streng.
    Zu erzählen, was mir alles widerfahren war, würde mir nicht viel nützen. Ich war mir sicher, dass selbst die dümmste Lüge immer noch überzeugender klang als die Tatsachen. »Gazanfer Abi …«, stotterte ich und versuchte mir den Anschein zu geben, als würde ich bei der kleinsten Berührung losheulen, »der hetzt dauernd seine Hunde auf mich.« Die jämmerliche Syntax, die ich selbst als Einjähriger verachtet hätte, und die Bezeichnung des Dreckshundes Gazanfer als »Abi« ließ mich vor mir selbst ekeln, doch für je blöder Şemi Abi mich hielt, desto besser. Auf dieselbe schwachsinnige Art versuchte ich zu begründen, warum ich mich dort aufhielt. »Meine Mama und mein Papa sind zu Besuch, und bis sie wieder da sind, wollte ich draußen spielen. Der Gazanfer …«
    »Der Sohn vom Hausmeister?«
    Ich nickte heftig. »Beim Weglaufen vor den Hunden hab ich gesehen, dass die Tür offen ist, und da hab ich mich hierher geflüchtet und gewartet.«
    »War die Tür offen?«, fragte Şemi Abi skeptisch. Sogleich stellte er die Tüten zur Seite und machte sich daran, das Türschloss zu untersuchen. Als er nichts finden konnte, richtete er sich auf und sah mich prüfend an. »War das Gazanfer?«, fragte er und zeigte dabei auf mein verletztes Knie.
    »Beim Wegrennen bin ich hingefallen.«
    Verdrossen kratzte sich Şemi Abi am Kopf und dachte nach. »Wenn das so ist, dann komm mit hoch und warte, bis deine Eltern zurück sind.«
    »Nein, ich warte besser hier. Sie sind sowieso gleich da.« Eigentlich hatte ich den Wohnungsschlüssel ja in der Hosentasche, aber das behielt ich besser für mich, um ihn nicht erneut misstrauisch zu machen.
    »Kommt gar nicht in Frage«, sagte er und schob mich in Richtung Treppe. »Außerdem können wir dann auch gleich dein Knie versorgen.«
    Ich gab keine weiteren Widerreden. Gemeinsam gingen wir hinauf. Es war natürlich unsinnig zu denken, dass die Söhne nach Hicabi Beys Tod die Wohnung umdekorieren würden. Trotzdem erstaunte es mich, dass alles ordentlich an seinem Platz stand. Die Schäden, die der verrückte Ertan angerichtet hatte, waren alle sorgfältig beseitigt und die Sessel mit dunkelbraunen Überzügen versehen. Wahrscheinlich, damit man im Falle eines weiteren Mordes auf einem der Sessel das Blut nicht sähe. Şemi Abi holte das notwendige Verbandsmaterial aus dem Arzneischrank und setzte mich genau an den Platz, an dem Hicabi Bey ermordet worden war.
    »Erzähl mal – was will dieser Gazanfer von dir?«, fragte Şemi Abi, während er meine Wunde mit Wasserstoffperoxid säuberte.
    »Eigentlich hat er sich mit allen in der Wolle. Aber für ein, zwei Leute, die sich gegen ihn wehren, hat er natürlich eine Sonderbehandlung parat.«
    »Das heißt also, du bietest jemandem Paroli, der so viel größer ist als du?«
    »Nur, wenn er mir zu sehr auf den Pelz rückt.«
    »Bravo. Ich mag Leute, die Mut haben.« Ein schlauer Schachzug, mir das genau in dem Augenblick zu sagen, als er die Jodtinktur auf mein Knie schmierte. Obwohl mir der Schmerz fast die Sinne raubte, gab ich keinen Mucks von mir, um zu demonstrieren, dass ich das Lob verdient hatte. »Wenn du groß bist, musst du auch Soldat werden.«
    »Ich dachte immer, beim Militär gälte nicht Paroli bieten, sondern Gehorsam als eine Tugend«, rutschte es mir heraus. Konnte mal wieder meine Klappe nicht halten.
    Als hätte ich etwas

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