Söhne und siechende Seelen
dahinter einen kleinen Fotoapparat.
Während mein kurzgewachsener und hilfloser Körper von dem wer weiß wievielten Tachykardieanfall an jenem Tag geschüttelt wurde, fielen mir plötzlich Yeşims Worte ein. Sie hatte behauptet, Erkin sei an jenem Abend zu Hicabi Bey gegangen, um einige Fotos zu holen. Wahrscheinlich hatte sie das nur erfunden. Und selbst wenn es stimmte, hatten diese Fotos bestimmt nichts mit denen in diesem Apparat zu tun. Als die Polizei die Wohnung durchsuchte, befand sich wahrscheinlich nicht einmal ein Film in der Kamera. Dennoch schob ich den Apparat in einer seltsamen Vorahnung in meine Tasche.
Als nach dem Ertönen der Wasserspülung Şemi Abi zu mir kam, bedankte ich mich noch einmal bei ihm und fügte hinzu, dass ich jetzt gehen könnte, weil meine Eltern mittlerweile zu Hause seien. Ich bestellte auch Grüße an Rebi Abi und wünschte beiden ihr Leben lang viel Glück. Ich übertrieb sogar und bat ihn, mich gelegentlich ausführlich über die Aufnahmeprüfung an der Kadettenschule zu informieren. Über Letzteres war er zutiefst erfreut. Mit Hochachtungsbezeugungen an meine Eltern verabschiedete er mich. Auf dem Heimweg überlegte ich mir eine Antwort auf die Frage meiner Mutter, was ich denn den ganzen Tag getrieben hätte: »Ich hab einen Mann angeschossen, Hausfriedensbruch begangen und gestohlen. Du kannst aber trotzdem stolz auf mich sein, Mamilein, denn ich habe nur einen einzigen Zeugen hinterlassen: einen grinsenden Porzellanesel.«
* * *
Manchmal, meine verehrten Brüder und Schwestern, bricht einem die Welt zusammen. Das Leben büßt auf einmal jegliche Werte ein, die dafür sorgen, dass man ohne große geistige Anstrengungen zurechtkommt. Ihr begreift, dass eure Meinungen, die euch höchst intelligent vorkamen, unsinnig und eure aufrichtigsten Gefühle gekünstelt sind. Dass ihr eigentlich überhaupt keine Meinung zu irgendeinem Thema habt, eigentlich für niemanden irgendetwas empfindet und der gesamte Kosmos euch mit derselben grausamen Gleichgültigkeit begegnet. In dem Moment, in dem ihr diese Tatsache erkennt, die ihr die ganze Zeit vor Augen hattet und bis zu jenem Tag irgendwie ignorieren konntet, steht ihr kurz davor, die göttliche Ordnung zu verstehen.
Gott schafft das Universum, um seine unerträgliche innere Leere zu füllen. In das Universum platziert er Planeten, zwischen die Planeten die Erde, auf die Erde Leben und ins Leben den Menschen. Und findet nichts, womit er den Menschen anreichern könnte. Das also ist die Geschichte, wie dieses seltsame Tier namens Mensch zu dem erhabensten und sinnlosesten aller Geschöpfe wurde. Während der Kleinste der gemeinsamen Sinnlosen das Universum hier und da mit Philosophie, Kunst, Liebe, ironischerweise sogar mit Gott schmückt, muss er natürlich eine Tatsache vergessen: In Wahrheit werden alle Bücher geschrieben, um Seiten zu füllen.
Der Tod einer geliebten Person beispielsweise kann es ermöglichen, dass man sich den eigenen Lügen stellt. Oder eine ordentliche Tracht Prügel durch die Mutter. Einerseits ist man bereit zu glauben, dass die Mutter berechtigte Gründe dafür hat, einen fertigzumachen. Andererseits ist es nicht das völlige Außersichsein der Mutter, das einen innerlich zerreißt, sondern ihr wohlüberlegtes Vorgehen, einen nur auf die Arme und Beine zu schlagen, um einem nicht das Hirn zu verletzen. Wenn man sich dann endlich aus ihren Fängen befreit hat und in sein Zimmer geflüchtet ist, stieben die fröhlich in der durch das Fenster herein scheinenden Abendsonne tanzenden Staubkörner in alle Richtungen. Ihren Frieden zu stören macht einen so traurig, dass man von einem entsetzlichen Gefühl der Ausgrenzung erfüllt ist. Plötzlich schießen einem die Tränen in die Augen. Man kann nicht ertragen, dass sich diese niedlichen kleinen Geschöpfe vor einem fürchten. Zwei Stunden Prügel hat man ohne einen Piep über sich ergehen lassen, und nun wirft man sich auf den Boden und weint bitterlich. Dann kommt ein Staubkorn und setzt sich einem auf den Finger. Behutsam bewegt man diesen Finger. Es ist immer noch dort. Dann gesellen sich auch andere hinzu. Man liegt auf dem Boden, und Staubkörner regnen auf einen herab. Und während das Leben, dem man den Rücken gekehrt hat, einen umarmt, verwandeln sich die Schluchzer in fraktale Tanzmusik.
Sollten einen die Staubkörner eines Tages umschlungen haben, dann hat man entweder das Nirwana erreicht oder ist verrückt geworden. Was davon zutrifft, muss
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