Söhne und siechende Seelen
dieses Gesetz brechen, wenn man vorankommen will. In Erfüllung dieser Pflicht drehte ich vorsichtig den Türknauf. Dann betrat ich den Raum, vielleicht ein Lager oder eine Rumpelkammer, vielleicht aber auch der Ort, an dem Ruhan Beys Produkt eines irrsinnigen genetischen Experiments hauste, sein mordender Bruder mit den drei Augen und den sieben Hoden. Jener unglückselige Geruch schlug mir mit all seiner Intensität entgegen. Drinnen war es stockdunkel. Einzig die wenigen nach unten führenden Treppenstufen waren auszumachen. Vergeblich suchte ich überall nach einem Lichtschalter. Dies aber stellte für meine Wenigkeit, die es sich zum Motto gemacht hatte, stets allem auf den Grund zu gehen, natürlich kein Hindernis dar. Ich verschloss meine Ohren vor den Entsetzensschreien der Blumen oben im Zimmer, presste meine Handflächen an die Wände rechts und links von mir und stieg langsam die Treppe hinunter. Mit jeder Stufe verlor sich auch noch das letzte bisschen Licht. Da befiel mich irgendwie der seltsame Gedanke, dass der Mensch Licht brauchte, weil er den Anblick Gottes nicht ertragen konnte. Gott war die Dunkelheit. Wer sonst könnte Ihnen näher sein als Ihre Aorta, allgegenwärtig und allsehend sein und Sie allzeit umgeben? Sie würden ihn nicht sehen können, weil er sich stets hinter dem Licht verbarg. Ich atmete den betäubend schönen Duft ein und genoss diese »Erleuchtung«, als meine Hand an der Wand einen Lichtschalter zu fassen bekam. Ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde nachzudenken, drückte ich auf den Knopf. Das Licht war schwach, aber es genügte mir. Um Hicabi Bey zu sehen, der mit dem schönsten Ausdruck von Hass im kalkweißen Gesicht seine unheilvollen Hände bedrohlich nach meiner Kehle ausgestreckt hatte. Auch wenn ich von einem völlig neuen Horrorgefühl geschüttelt wurde, das nur wenigen Menschenkindern vergönnt ist, so war ich doch keineswegs erstaunt. Denn selbst wenn ich nicht gewusst hätte, dass Hicabi Bey tot war, so hätte ich doch mit einem kurzen Blick in jene blutrünstigen, eiskalten Augen erkannt, dass der, der da vor mir stand, der Satan in persona war. Nun war ich also an dem Ort, den ich mir stets in meinen Tagträumen vorgestellt hatte: in der Hölle. In dem festen Glauben, dass ich wenig später all meine Erinnerungen und Gedanken einbüßen würde, sie zumindest für mich all ihre Bedeutung verlieren würden, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand, sank auf die Knie und wartete. Doch als die Minuten vergingen und der Satan keinerlei Anstalten machte, über mich herzufallen, hob ich den Kopf und sah ihn an. Es war schon seltsam, aber als ich Dutzende Dämonen mit mindestens ebenso grässlichen Gesichtern hinter ihm stehen sah, war ich irgendwie erleichtert. Vielleicht dachte ich, dass durch die Verantwortungsdiffusion das Maß an Hass pro Kopf sinken würde. Wer weiß? Allerdings wirkte keiner der Teufel so lebendig wie Hicabi Bey. Als wären sie von einem zornigen Zauberer urplötzlich versteinert worden. Dann stellte ich fest, dass Hicabi Bey nicht der einzige Bekannte in dieser merkwürdigen Mannschaft war. Neben einigen Typen, die ich aus der Nachbarschaft kannte, gehörten auch Erkin Abi, die Gebrüder Rebi und Şemi sowie der Krämer Yakup zu den Soldaten dieser zur Verdammnis verurteilten Armee. Wie sie so dastanden, mit Mienen, die das Wesen ihrer Seelen reflektierten, war jeder Einzelne eine hervorragende Darstellung von Hass, Gier oder Neid.
Auf einmal überkam mich die Angst, dass ich in der Ecke, in der ich mich hingekauert hatte, ebenfalls zu Stein und somit einer von ihnen geworden war. Ein plötzlicher Adrenalinschub verwandelte meinen bedeutungslosen Körper in pure Energie; mit ganzer Kraft stürzte ich mich auf das Phantom in Hicabi-Bey-Gestalt. Als die Masse unerwartet ihre Balance verlor, knallten wir beide zu Boden. Ich verstauchte mir mächtig das linke Handgelenk, doch im Vergleich zu meinem Feind ging es mir blendend. Der Arm des Verblichenen war abgerissen, sein Schädel in drei Teile zertrümmert. Diesem dümmlichen Geschehen musste Einhalt geboten werden. Ich musste diese spirituellen Illusionen beiseiteschieben und nüchtern und unter Einsatz meiner überragenden intellektuellen Fähigkeiten an die Sache herangehen. Ich führte eines der Bruchstücke an meine Nase, und mit einem Mal war das ganze »Mysterium« gelöst. Was ich in Händen hielt, war nichts anderes als ein Stück bemalte Seife. Dieser Geruch war es, der sich in
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