Söhne und siechende Seelen
möchte, dass du in den Laden deines Vaters gehst und ein paar Bilder entwickelst.«
»Umsonst? Du Schlaumeier.«
»Mit Geld hat das nichts zu tun. Niemand darf die Fotos sehen.«
»Was sind das denn für Fotos?«, fragte er und musterte mich misstrauisch.
»Das weiß ich noch nicht.« Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er mir das alles nicht abnahm und immer noch glaubte, ich wollte gratis ein paar Familienfotos machen lassen. »Ich werde dich dafür irgendwie bezahlen. Mit Murmeln, einem Ball, einem Buch … Wie du möchtest. Wenn du Geld willst, dauert es etwas länger. Aber ich werde mich für deine Hilfe revanchieren.«
»Nein, darum geht’s nicht«, erwiderte er mit verzogener Miene. »Mir kommt das Ganze nur etwas komisch vor.«
»An der Sache ist nichts komisch. Du musst nur den Film entwickeln, ohne dass dein Vater es mitkriegt.«
»Was ist denn da drin?«, fragte er und zeigte auf die Tüte in meiner Hand.
»Erzurum-Honig. Hab ich vorhin beim Krämer Yakup gekauft.«
»Es gibt keinen Erzurum-Honig. Es gibt Erzincan-Honig«, sagte Yüksel, »Yakup hat dich übers Ohr gehauen.«
Voller Stolz zeigte ich ihm das Etikett. »Und was steht hier?«
»Das ist der mit Waben, stimmt’s?«, fragte er und schluckte.
Ich reichte ihm die Tüte. »Lass ihn dir schmecken. Ich mag sowieso keinen Honig.«
Mit unverhohlener Freude schnappte er sich die Tüte. »Na dann abgemacht«, erhob er sich eilig, ließ alle Kriegsvorbereitungen sausen und machte sich schleunigst auf den Heimweg. Da würde er sich jetzt mit Honig vollstopfen. Wie ein Bär. Ich kapierte das nicht.
»Yüksel«, rief ich hinter ihm her.
»Was ist?«
»Hast du nicht was vergessen?«
Er glotzte mich groß an. Ich zog die Filmbüchse aus meiner Tasche und zeigte sie ihm. Widerwillig kam er zurück und nahm sie entgegen. Ich packte ihn am Handgelenk. »Wenn du das nicht hinkriegst, hole ich mir den Honig eigenhändig aus deinem Hintern zurück.«
neun
reise zum mittelpunkt der erde
Die Zeit verging wie im Flug. Eine Woche war es her, dass ich Yüksel den Film gegeben hatte, und zwei Jahre, dass ich gelernt hatte, dass Frauen nicht aus dem Hintern pinkeln. Dabei kam es mir vor, als sei beides gestern gewesen. Da mein Seelenzustand mir die Menschen noch unerträglicher machte als sonst, ging ich kaum aus dem Haus. Einen Tag zuvor hatte ich beim Brotkaufen vom Krämer Yakup erfahren, dass man Ruhan Bey festgenommen hatte. Die Polizei hatte endlich die Verbindung zwischen ihm und dem Opfer entdeckt. Der Herr Staatsanwalt hinkte also ein paar Schritte hinter mir her. Bravo. Wie auch immer – als eine ganze Mannschaft von Teehausbesuchern bezeugte, dass Ruhan Bey zur Tatzeit mit ihnen im Teehaus ein Fußballspiel angesehen hatte, setzten sie den mysteriösen Bildhauer wieder auf freien Fuß. Auch diese Spur hatte also zu nichts geführt. Tag und Nacht zermarterte ich mir das Hirn. Über das Paradoxon von Zenon, Frauen, die Zukunft, darüber, ob Metin Bilgin meinen Vater tatsächlich anklagen würde, und natürlich über den Mord. Meine Hirngymnastik führte jedoch zu nichts. Was die Lösung des Mordfalls betraf, hatte ich all meine Hoffnungen in die gottverdammten Fotos gesetzt, die Yüksel der Honigbär mir weiß der Kuckuck wann bringen würde. Auf meine diversen telefonischen Nachfragen, was er denn triebe, lautete seine Antwort, er warte auf die passende Gelegenheit, die Sache ohne Wissen seines Vaters zu erledigen. Ich dachte, er wolle das Ganze links liegen lassen, aber, aus Angst, er könnte den Film seinem Vater aushändigen, bedrängte ich den Mistkerl nicht weiter.
Zu Hause lief es noch schlimmer als gewöhnlich. Meine Mutter setzte meinen Vater permanent unter Druck, so schnell wie möglich nach Erzurum zu fahren, um eine Wohnung zu suchen, was wiederum bei ihm zu kleineren Nervenkrisen führte. Sie stritten Tag und Nacht. Ich hoffte, dass er sich eines Tages wie Gauguin nach Tahiti aufmachen würde, doch vergebens. Der einzige Ort, an den er fliehen konnte, war die schäbige Teestube in Beşiktaş, in der seine alten Freunde herumhingen. Mittlerweile ging er jeden Abend dort vorbei und kam jede Nacht später nach Hause.
Obwohl es längst dunkel war, kehrte mein Vater an jenem ominösen Abend einfach nicht in sein trautes Heim zurück. Die unangetastete Tafel bot einen betrüblichen Anblick, um der Stütze unserer Familie bei seiner Heimkehr zu demonstrieren, dass seine Frau noch immer keinen Bissen zu sich genommen
Weitere Kostenlose Bücher