Söhne und siechende Seelen
Tür.
»Oder wart ihr etwa schon im Bett?«, fragte er und blickte sich um. Als würden wir alle in der Diele schlafen.
»Meine Mutter hat sich hingelegt«, antwortete ich. »Und mein Vater ist nicht zu Hause.«
»So ein Pech! Ich weiß, es ist ein wenig spät, aber ich fahre morgen zurück nach Bursa. Da wollte ich mich vorher verabschieden. Na denn, bestell den beiden schöne Grüße, okay?«
Er schickte sich an zu gehen, da hielt ich ihn auf: »Rebi Abi.« Fragend blickte er mich an. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Na klar.«
»Zwischen meinen Eltern läuft’s im Moment nicht so gut. Sie haben sich gerade total gestritten. Deshalb ist mein Vater auch weggegangen.«
Rebi Abi senkte den Kopf. »Das tut mir leid.«
»Ich muss ihn so schnell wie möglich finden.«
»Und wie willst du das anstellen?« Sein ausweichender Tonfall zeigte, dass er bereits ahnte, dass der Gefallen größer ausfallen würde, als er erwartet hatte.
»In solchen Situationen geht er immer in eine bestimmte Kneipe. In Beşiktaş. Ich möchte, dass du mich da hinbringst.« Rebi Abi überlegte still. »Eigentlich kenne ich den Weg«, fuhr ich fort. »Aber ich fürchte, dass man mich auf die Polizei bringt, weil man denkt, ich sei von zu Hause abgehauen, wenn ich um diese Zeit allein unterwegs bin. Es gibt bekanntermaßen einen Haufen übereifrige Leute. Deshalb muss ein Erwachsener bei mir sein.«
»Es ist nicht in Ordnung, dass du in eine Kneipe gehst«, sagte Rebi Abi nervös.
»Ich gehe ja nicht dorthin, um mir einen hinter die Binde zu kippen, Rebi Abi. Es handelt sich hier um einen Sonderfall.«
»Es ist normal, dass sich Eltern ab und zu ein wenig zanken«, meinte er und strich mir mit falscher Zärtlichkeit über den Kopf. »Du darfst das nicht überbewerten. Ich meine, du solltest jetzt ins Bett gehen …«
»Wenn du mich nicht dort hinbringst, dann nehme ich das Risiko auf mich und fahre allein«, schnitt ich ihm das Wort ab.
»Und was ist, wenn deine Mutter aufwacht und merkt, dass du weg bist? Die arme Frau wird ja durchdrehen«, spielte er seinen letzten Trumpf aus.
»Kein Problem, wir schreiben ihr einen Zettel.«
Angespannt fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. Er wusste nicht, was er tun sollte. »Was ist schon dabei?«, bedrängte ich ihn. »Du bringst mich zu meinem Vater, und dann gehst du wieder. Falls er nicht da sein sollte, fahren wir zusammen zurück. Das kostet dich höchstens eine Stunde.«
»Darum geht’s doch gar nicht«, so oder ähnlich stammelte er vor sich hin.
»Dann ist ja alles okay. Warte eine Minute. Ich schreibe meiner Mutter eine Nachricht, dann komme ich.«
Fünf Minuten später fuhren wir im Minibus Richtung Üsküdar. Von dort aus ging es mit dem Motorschiff nach Beşiktaş und dann zu Fuß bis zu
Muhittin’s
hinten im Fischmarkt. Beim Hineingehen bemerkte ich, dass Rebi Abi etwas vor sich hinmurmelte. Wahrscheinlich verfluchte er den Moment, als er an unserer Tür geklingelt hatte.
Ich kannte die düstere Kneipe schon ein wenig von manchen früheren Beşiktaş-Touren mit meinem Vater, auf denen er hier vorbeischaute, um einige seiner Freunde zu sehen, die zu ungeduldig waren, um mit dem Trinken bis zum Abend zu warten. Zu jener nächtlichen Stunde unterschied sich der Anblick doch wesentlich von dem, den die Kneipe tagsüber bot. Hinter einer dicken Wand aus Zigarettenqualm standen etwa zehn Tische und um diese Tische herum saßen bestimmt hundert Mann mit mittlerweile blutunterlaufenen Augen, wobei die Frage, wie sie auf so engem Raum Platz fanden, ein unlösbares Rätsel darstellte. Die Melodie des Liedes
Ich traf Sie an einem Frühlingsabend
aus dem Munde eines Zigeunermusikers, begleitet von seiner verstimmten Geige, mischte sich unter das Gedröhne und Gläserklirren. Es mangelte also auch nicht an Musik – wenn man das denn Musik nennen wollte.
Ich ermittelte den Tisch, an dem mein Vater saß, und ging schnurstracks darauf zu. Als der ehrenwerte zahnlose Herr mich sah, der unter dem Spitznamen
Tevfik-Schätzchen
bekannt war und nach dessen Ableben die Firma Bafra-Zigaretten eine Einbuße von geschätzten fünfzig Prozent ihres derzeitigen Marktanteils würde hinnehmen müssen, stieß er mit einem »Huch!« meinen neben ihm sitzenden Vater an. »Ist das da nicht dein Sohn?«
Ohne meinem verdutzt dreinblickenden Vater die Gelegenheit zu geben, etwas sagen zu können, meinte ich: »Hallo. Wohl bekomm’s.«
Außer Tevfik-Schätzchen saßen noch drei weitere
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