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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
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inne und zog es dann vor, den Verstorbenen nicht als »Leiche« zu bezeichnen, sondern stattdessen seinen Satz lieber mit einem Fluch zu beenden.
    Großmütig und mit leicht welterfahrener Gestik nahm Rebi Abi die Beileidsbekundungen entgegen, als der Gehilfe Yurdakul mit zwei Hockern auftauchte. »Hier, nimm, Abi!« Dann sah er mich und sagte: »Kind.«
    »Rind«, redete Mecit blöd daher.
    »Kinder dürfen hier allerdings nicht rein, Abi.« Stress sickerte Yurdakul aus allen Poren.
    »Rinder«, meinte Mecit beharrlich.
    Mit weinerlicher Stimme versuchte Yurdakul dem Heer von Betrunkenen pausenlos zu erklären, was für Scherereien er kriegen würde, sollte die Polizei plötzlich eine Razzia durchführen, der Wirt den Jungen sehen oder sich jemand beschweren, doch keiner schenkte dem Armen auch nur einen Funken Beachtung. Einzig wenn er »Kind« sagte, brüllten sie wie aus einem Munde »Rind« und lachten sich dabei schier zu Tode. Schließlich beugte sich der Gehilfe ans Ohr meines Vaters, der für ihn von allen der Vernünftigste am Tisch zu sein schien, was allerdings in Anbetracht der Tatsache, dass er einen halben doppelten Rakı in null Komma nix hinunterkippte, nicht mehr lange so bleiben würde. »Abi, versteh mich doch, bitte … Was soll ich denn sagen, wenn jemand fragt, was der Junge hier zu suchen hat?«
    Der Gehilfe ging mir allmählich auf die Nerven. Weder würde es eine Razzia geben noch würde sich jemand über mich beschweren. Ich packte den Streber an seiner herumbaumelnden Krawatte und zog ihn an mich heran. Seine Nase berührte meine Wange. Ich drehte mich nicht einmal, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Sag ihnen«, und dabei streckte ich die andere Hand nach dem Rakıglas meines Vaters aus, »das Kind ist der Vorfahr des Menschen.« Ich leerte das Glas und knallte es auf den Tisch. Obwohl ich seine Krawatte losgelassen hatte, stand er wie versteinert in gleicher Position. Als ihm dämmerte, mit was für einem verdammten Höllenknirps er es zu tun hatte, verzog er sich schleunigst und ohne ein Wort.
    Mein widerliches Benehmen brachte mir mächtige Ovationen bei den Spinnern am Tisch ein. Der Holzkopf und Mecit feierten mich mit Applaus, der Amca Bey mit einem Röcheln, das ich als lobende Worte zu identifizieren glaubte. Nur mein Vater sah mich schief an und riss das Glas an sich. Damit wollte er wohl zum Ausdruck bringen, dass er mich bei einem weiteren ähnlichen Verhalten durch den Fleischwolf drehen würde. Dabei wusste jeder in seinem tiefsten Inneren, wie stolz er war. Er war nämlich ebenfalls ein Riesenspinner.
    »Hoch die Tassen«, sagte der Holzkopf und erhob seinen Rakı. »Trinken wir auf Mecits Hochzeit.«
    Dieser Vorschlag fand umgehend Zustimmung. Mecit kippte das Zeug hinunter und brüllte: »Ach Mann, ach!« Er fuhr fort mit der Liedzeile: »Wie konnte ich jene despotische Frau nur lieben!«
    »Despotische Frau? Mann, Mecit, du bist vielleicht ein Schwätzer«, meinte der Amca Bey. »Du hast das Weib gerade einmal in deinem Leben gesehen. Und das war mit deiner Mutter bei der Brautschau.«
    »Alle Frauen sind Despotinnen«, verkündete Tevfik-Schätzchen.
    »Da spricht die Erfahrung«, sagte der Amca Bey. »Mann, Tevfik, hast du in deinem Leben auch nur eine Frau kennengelernt außer den Weibern im Puff?«
    Der Holzkopf fuhr dazwischen, ohne Tevfik-Schätzchen die Gelegenheit zu geben, sich zu verteidigen. »Sag das nicht, auch Tevfik-Schätzchen hat Liebeskummer. Er war sechs Monate immer bei derselben Ausländerin. Letztens hat sie ihn rausgeworfen mit den Worten, er solle sich sein Geld sonstwo reinstecken und ihr nie mehr unter die Augen treten. Mannomann, du hast sogar eine Nutte dazu gebracht, dich zu verlassen, reife Leistung, echt!«
    Während die Leute sich totlachten, vergaß Tevfik-Schätzchen seine Zigarette im Aschenbecher und zündete sich eine neue an. »Oksana«, wimmerte er, »ihr würdet nicht so reden, wenn ihr gesehen hättet, wie schön sie war.«
    »Scheiß auf die Schönheit«, sagte der Amca Bey. »Das Äußere ist nicht wichtig. Auf die innere Schönheit kommt es an. Sie ist das Wesentliche.«
    Dieser sufistische Denkansatz brachte die Stimmung am Tisch für einen Moment zum Erliegen, aber der Holzkopf beeilte sich, das Gespräch wieder auf die ursprüngliche Ebene zurückzuführen. »Hey, Amca Bey, sagst du nicht immer, im Wesen wären wir alle gleich?«
    »Und?«
    »Äh – wenn wir im Wesen alle gleich sind, dann gucken wir klarerweise schon nach dem

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