Söhne und siechende Seelen
Rebi Abi erbleichte. Er hob sein Rakiglas, schwenkte die Flüssigkeit darin und stellte das Glas wieder ab. Er holte tief Luft und versuchte, sich zu entspannen. Unglückseligerweise hub genau in dem Moment der fiedelnde Alleinunterhalter mit dem Lied
Eine solch tiefschwarze Nacht ist meine Seele / Es wird nicht Morgen
an, und Rebi Abi brach in Tränen aus. Dass dies niemanden befremdete, war schon seltsam. Wieder und wieder entschuldigte sich Rebi Abi bei allen, dass er ihnen die Stimmung kaputt gemacht hätte; währenddessen strichen sie ihm beschwichtigend über den Rücken. Wahrscheinlich waren sie bei ihren Versammlungen an diese Art von heftigen Stimmungsschwankungen gewöhnt. Da ich von Natur aus derlei Rührseligkeiten nicht schätzte, beachtete ich Rebi Abi nicht weiter. Als ich zwischen all seinem Gestammel allerdings den Satz »Ich war’s« heraushörte, sprang ich von meinem Platz auf. Anstatt mich im Namen der vielen Unschuldigen wie dem verrückten Ertan, Erkin Abi oder meinem Vater zu freuen, erlebte ich in dem Augenblick, als er den Satz aussprach, eine tiefe Enttäuschung. Da begab ich mich in zahllose Gefahren, um den Fall zu lösen, und dann bekam der Mörder in einer dreckigen Kneipe plötzlich Gewissenbisse und gestand die Tat. Es war einfach nicht zu fassen.
»Ich hab meine geliebte Mutter umgebracht«, wimmerte Rebi Abi und schnäuzte sich in eine Serviette. »Meinetwegen ist sie gestorben.«
»Dann soll dich der Teufel holen!« Ich weiß nicht, warum ich das sagte. Eigentlich war ich erleichtert, als ich begriff, dass er seinen Vater nicht umgebracht hatte und nur wie alle Männer, die zu tief ins Glas geschaut hatten, jammerte, er hätte die Liebe seiner Mutter nicht verdient. Ich denke, es handelte sich um eine Art Gefühlsausbruch. Ich hätte im Dienst nicht trinken sollen. In dem Moment hob mich mein Vater unter den Armen in die Lüfte und setzte mich weit weg von Rebi Abi wieder ab. Das war eine vernünftige Maßnahme, denn dass Rebi Abi mich als ersten Ansprechpartner einstufte, könnte zu einem fatalen Ende führen.
»Erzähl, Junge«, sagte der Holzkopf und legte Rebi Abi die Hand freundschaftlich auf die Schulter. »Dann wirst du dich leichter fühlen.«
»Ach, meine liebe Mutter«, winselte Rebi Abi zwischen zwei Schniefern. »Wie konntest du dir das antun? Was für ein Monster, was für ein Widerling war ich, dass ich mich kein bisschen um dich gekümmert habe! Obwohl ich wusste, wie unglücklich du warst … Gott möge mich in die Hölle schicken!« Mein Vater drehte sich zu mir und warf mir einen giftigen Blick zu. In jener Nacht würde ich also zum ersten Mal Prügel von meinem Vater beziehen, dachte ich. Mittlerweile ging der Riesenesel immer mehr aus sich heraus: »Ich war sehr jung. Ich hatte mich in ein Mädchen namens Ayşe verguckt. Sie war völlig durchgeknallt. Sie hatte sich ein Loch mitten in die Zunge stechen und einen Ring einsetzen lassen. Sie nahm Drogen. Und ich rannte hinter ihr her. Manchmal ging ich eine Woche lang nicht nach Hause. Bei allem brüllte ich herum und tat meiner Mutter im Herzen weh. Eines Nachts kam ich heim, es war niemand da. Der Krämer Yakup erzählte mir, dass meine Mutter sich aus dem Fenster gestürzt hätte und seit drei Tagen im Militärkrankenhaus im Koma läge. Ich dachte, ich werde verrückt. Als ich ins Krankenhaus kam, traf ich meinen Bruder Şemi. Er sagte, meine Mutter sei tot. Die Beerdigung wäre am nächsten Tag.« Er unterbrach seine Rede und nahm einen winzigen Schluck Rakı. Er verzog das Gesicht und schnalzte ein-, zweimal mit der Zunge, um den scharfen Geschmack loszuwerden. »Die heilige Frau, die mich mehr als irgendjemand und mehr als alles auf der Welt liebte, hatte ich für immer verloren. Und wofür?«
»Für ein Mädchen mit einem Ring durch die Zunge«, antwortete der Amca Bey.
»Ich wollte sie wenigstens noch ein letztes Mal sehen. Mein Bruder sagte mir, dass es dafür zu spät sei, weil man sie bereits in die Leichenhalle gebracht hätte. Jemanden zu finden, der die Halle um diese Zeit aufschließen würde, war unmöglich. Ich aber war fest entschlossen, nicht wegzugehen, bis ich meine Mutter noch einmal gesehen hätte. In jener Nacht schlief ich im Krankenhaus. Am nächsten Morgen wurde ich früh geweckt. Der Arzt meiner Mutter war ein Kamerad meines Bruders aus seiner ersten Einheit beim Militär. Şemi bat ihn, und er öffnete die Leichenhalle. So konnte ich meine Mutter noch ein paar Minuten sehen. Sie
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