Söhne und siechende Seelen
Leben gesehen hatte. Hass stand ihr besser zu Gesicht als Blumen. So ist es bei allen Frauen.
»Da war doch dieses Märchen, das du mir erzählt hast«, sagte ich und beugte mich zu ihr. Unmerklich berührte ich ihr Haar und ihre Wangen. »Du weißt ja, dass das Ende nicht ganz vollständig ist. Die Menschen, die Glassplitter im Auge haben, können sich durch Weinen retten. Mit den Tränen fließen nämlich auch die Splitter weg. Aber bei manchen sind die Splitter bis ins Herz vorgedrungen. Und sie können weinen, so viel sie wollen, es wird ihnen nichts nützen, sie werden auf ewig verdammt sein.«
Ich rannte hinaus – das war ein großer Fehler. Ich verlor das Gleichgewicht und purzelte mindestens fünfzehn Stufen bis ins Erdgeschoss hinunter. Als ich auf die Straße trat, war ich zutiefst erstaunt, wie sehr sich die Farben des Lebens verändert hatten. Der Himmel sah tatsächlich aus wie Marmelade, und das in Geschmeide gehüllte kleine Mädchen winkte mir tatsächlich vom Himmel zu. Ich winkte zurück und schleppte mich mit letzter Kraft nach Hause. Ich stöpselte das Telefon aus und klemmte ein Stück Pappe in die Klingel. Höchstens fünf Minuten, nachdem ich meinen Platz unter dem Diwan eingenommen hatte, verwandelte sich das alte, verrostete Gestell in ein prächtiges Tor. Ich brauchte es nur ganz leicht aufzudrücken.
elf
also schlief zarathustra
Es hätten Don Quijote und Sancho Panza sein können. Oder Leyla und Mecnun. Tom und Jerry. Eventuell sogar Oya und Kaya. Warum aber Öztürk und ich? Darüber musste nachgedacht werden. Waren wir Seelenverwandte? Eine psychoanalytische Metapher? Oder waren wir bloß ein simples Missgeschick des Zufalls? War Öztürk für mich das, was ich für Öztürk war? Was machte uns letzten Endes aus? Bezüglich der Probleme zwischen uns gab es noch jede Menge weitere Fragen, die man nicht eindeutig beantworten konnte. Waren beispielsweise Öztürk und ich in dieselbe Frau verliebt? Hieß diese Frau Duygu Fırtına, Gefühlssturm? Existierte eine solche Frau tatsächlich? War Öztürk, der als Jugendlicher verstorbene Freund meines Vaters aus Kindertagen, ein Traum von mir? Oder ein Traum meines Vaters? War dieser Öztürk etwa der Komödiant Öztürk Serengil? Öztürk Serengil war doch nicht etwa ein Traum? Der vom Vater an den Sohn überging? Ein Traumvirus? Was würde auf den Sohn zukommen, wenn er mehr zu erreichen versuchte als sein Vater? Mein Ziel war nicht, Antworten auf all diese Fragen zu finden. Ich wollte nur, dass Sie wissen, dass nicht alles so normal ist, wie es erscheint.
Im Vorspann trafen Öztürk und ich uns wie immer auf der Anhöhe, von der man Blick auf die Wüste hatte. Um die Wüste zu betrachten und zu plaudern. Das taten wir oft. Nie aber tranken wir Tee, während wir uns den Himmel über der Wüste ansahen. Hielten wir das nicht für notwendig? Die Wüste ist ein zu heißer Ort. Wie bitte? Sagten Sie Eistee? Damit Sie beim Lesen dieser Zeilen über Öztürk und unsere angenehmen Gespräche nicht durcheinander geraten, drängt sich die Notwendigkeit, einige Punkte zu erläutern, mit all ihrer Wucht auf. Für den Moment wehre ich mich dagegen, und ich nehme an, dass Sie mich verstehen, zumindest tolerieren. Oder wälze ich mich nur im Sumpf der Subjektivität? Das weiß Gott allein.
Ziel der Wüstengespräche zwischen Öztürk und mir ist, die Welt zu retten. Vielleicht ist es auch nur anscheinend das Ziel. Damit sich ein Drama entwickelt und wir unterschiedliche Gefühle erleben und auslösen. Der einzige Weg, Gefühle lebendig zu erhalten, ist die Bewegung. Während Stillstand die Geisteskraft erhöht, macht er den Menschen gefühllos
(Quelle: »Zeitgenössisches Leben, Enzyklopädie des kommerziellen und agoraphobischen Wissens«)
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Auch an jenem Tag saßen Öztürk und ich da, mit Blick auf die Wüste, und machten uns ohne Eile warm mit Forschungsund Entwicklungsfragen zum Thema »Wovor retten wir heute die Welt?«
»Die Vergangenheitsfresser«, sagte Öztürk. »Die müssen wir aufhalten.«
»Sie sind heute vielleicht ein Direkt-zum-Thema-Kommer.«
»Das gebietet meine Natur, das ist nicht nur heute so. Vielleicht sind Sie heute eher ein Auf-Personen-Fixierter.«
»Schon möglich. Das ist mir lieber. Themen sind etwas für oberflächliche Menschen.«
»Auf-Personen-Fixierter zu sein gewährt Ihnen nicht gleichzeitig das Recht, ein Klischeeverfechter zu sein. Darauf möchte ich Sie hinweisen. Tee?«
»Gern. Merci.«
Wie in den
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