Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
Vom Netzwerk:
ich, bevor ich ihr antwortete, ebenso in den Flur. Nichts und niemand war zu sehen. »Du erzählst mir doch ständig irgendwelche Märchen«, sagte ich und beugte mich vor. »Und heute möchte ich dir ein Märchen erzählen.«
    »Okay, aber geht das nicht später? Wie gesagt …«
    »Es war einmal in alter grauer Vorzeit«, begann ich, aber ehrlich gestanden war ich mir nicht sicher, ob ich bis zum Ende durchhalten würde. Mein Körper schlief allmählich ein, mein Geist war umnebelt. »Nicht allzu fern, in einem nahe gelegenen Viertel, lebte eine Witwe mit ihrer Tochter. In ihrer Nachbarschaft war das Weib als Wunderheilerin bekannt. Man traf sogar Schwachköpfe, die sie als Heilige bezeichneten. Dabei tat das dreckige Weib nichts anderes, als ihre Tochter an die Kerle zu verschachern, die zu ihnen nach Hause kamen. Ja, so war das.«
    »Du …«, sagte Alev Abla, ihr gekünsteltes Lächeln war zu einer Maske erstarrt.
    »Im gleichen verwunschenen Viertel lebte noch ein anderer Schuft, der mindestens so grausam war wie diese Hexe. Die größte Freude dieses Greises, wegen dem sich seine Frau aus Gram ins Jenseits beförderte, war, die Tochter der Hexe mit dem Dorftrottel bumsen zu lassen und sie dabei zu fotografieren. So lebten sie glücklich, bis eines Tages ein dummer Junge auftauchte, der nichts anderes wollte, als ein Bremer Stadtmusikant zu sein, und der alles durcheinanderbrachte. Der Dummkopf entflammte für die kleine Nutte, vergaß seine Leidenschaft für Bremen und beschloss, sie zu heiraten.«
    Alev Abla strauchelte einen Schritt auf mich zu. »Du verdammter …«
    »Da bat das Mädchen seinen Liebsten, zu dem dreckigen Alten zu gehen, die Fotos zu holen und ihn danach abzumurksen. Vielleicht hatte das Mädchen auch nur die Fotos gewollt, und es ergab sich, dass der Jüngling gezwungen war, dem Typ die Kehle durchzuschneiden.« Ich redete wie ein Maschinengewehr, doch mein Geist sendete mir Warnungen zu, dass die Bilder, die von meinen Augen eintrafen, eine ernsthafte Bedrohung enthielten. Die Anzahl meiner Zuhörer hatte sich urplötzlich auf vier erhöht: zwei davon waren Alev Abla und zwei Erkin Abi. »Der vergnügungsgeile zähe Gockel, der letzten Endes das bekam, was er verdiente, verfügte gleichzeitig über eine ausgesprochen paranoide Persönlichkeit und war dementsprechend kein Typ, der mitternächtlichen Besuchern so einfach die Tür öffnete. Wohl wissend protestierte das Mädchen denn auch nicht, als im Haus des Mannes eine letzte Orgie organisiert wurde. Anstatt selbst hinzugehen, schickte sie in jener Nacht allerdings ihren Liebsten. Der arme Greis öffnete die Tür, weil er ja dachte, es sei das Mädchen. Die kleine Nutte währenddessen …« Alev Ablas Ohrfeige zwang mich zu unterbrechen. Eigentlich tat mir der Schlag ins Gesicht sehr gut, denn er stellte die Verbindung meiner schwindenden fünf Sinne zur Welt wieder her. Zumindest sah ich mittlerweile nur noch zwei Personen vor mir. Ich schluckte die Mischung aus Blut und Spucke hinunter und fuhr fort: »Die kleine Nutte beobachtete von ihrer genau gegenüberliegenden Wohnung aus das Geschehen. Als ihr Liebster aus dem Haus des Kerls rannte, freute sie sich so sehr … Aber leider war die Freude nur von kurzer Dauer. Denn beim Blick aus dem Fenster bemerkte sie auf der Straße auch den schmuddeligen Nachbarsjungen und dass auch er den Bremer Stadtmusikanten gesehen hatte. Der Knabe bewegte sich auch noch in dieselbe Richtung. Beinahe wäre alles, aber auch alles zerstört gewesen …«
    »Bring ihn um.« Die Stimme gehörte Alev Abla, und sie konnte das nicht zu mir gesagt haben.
    »Was redest du da für Unsinn!«, schrie Erkin Abi. »Ich kann doch kein Kind umbringen. Ich kann niemanden umbringen!«
    »Schrei nicht, du Blödmann! Jemand wird dich hören.«
    Was mich betraf, so war ich wild entschlossen, das Szenario, das ich mir vorstellte, zu Ende zu erzählen. »Kommen wir zu dem anderen Comics-Held, dem Verrückten … Da der Knabe ihn nicht ins Haus gehen sah, muss er sich zum Zeitpunkt des Mordes im Haus befunden haben. Tatsächlich …«
    Da legte Alev Abla ihre Hände um meinen Hals. »Dann mach ich ihn eben selbst fertig …«
    »Bist du vollkommen irre?«, brüllte Erkin Abi und zerrte sie von mir weg.
    Alev Abla strampelte wie eine Verrückte und hackte ihm die Fingernägel ins Gesicht. »Lass mich, du Trottel! Sie werden uns beide aufhängen!«
    »Ich hab die Schnauze voll, endgültig!« Mit diesen Worten versetzte Erkin Abi

Weitere Kostenlose Bücher