Söhne und siechende Seelen
Duygu Hanım in wenigen Tagen sogar vernünftiger werden als vorher.«
»Wenn ich dir in irgendeiner Weise helfen kann …« Ich stammelte diesen Satz und fühlte mich unweigerlich ein wenig beschämt, denn mir ging der Gedanke durch den Kopf, bis in alle Ewigkeit mit ihr dort zu bleiben. Wir könnten vielleicht sogar heiraten und Kinder kriegen. Nie hatte Duygu Fırtına mich als Mann angesehen, dabei war ich für diese ENA der einzige Mann, den sie jemals in ihrem Leben sehen würde.
»Das Beste, was du machen kannst, ist, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Sobald Duygu Hanım ein wenig zu sich gekommen sein wird, werden Zehntausende von Leukozyten hinter dir her sein, um dich zu vernichten. Als ich spürte, dass sich ein Fremder dem Corpus callosum näherte, hätte sogar ich dich beinahe vernichtet, weil ich dachte, du könntest eine Bakterie sein. Zum Glück habe ich dich im letzten Moment erkannt.«
»Tatsächlich – wie hast du mich erkannt?«
»Vergiss nicht, dass ich alles, was Duygu Hanım weiß, ebenfalls weiß. Ich ahnte, dass du Fanzagers Superverkleinerer benutzt hast, um herzukommen.«
»Weiß sie denn auch, was du weißt?«, fragte ich mit hochrotem Kopf. Mir war eingefallen, wie ich während meines Wortgefechts mit Castratus immer von Duygu Hanım als meiner Liebsten gesprochen hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn das so wäre, würde sie durchdrehen.«
Bei diesen Worten wurde ich ein wenig ruhiger. »Mit meinem lieben Waffenbruder Öztürk hatten wir vereinbart, alle zwei Stunden ein Röhrchen Blut unter Duygu Hanıms Zunge abzunehmen und damit zu versuchen, mich wieder in die Außenwelt zu befördern.«
»Wenn wir uns beeilen, können wir den ersten Bus erreichen«, meinte Duygu Hanıms andere Persönlichkeit.
»Warte ’ne Sekunde«, sagte ich und biss mir auf die Lippen. »Ich will dich etwas fragen. Es kann natürlich sein, dass du nicht antworten willst … Als ich herkam, hoffte ich in Erfahrung zu bringen, was Duygu Hanıms größtes Leid war. Kannst du mir das verraten?«
»Aber klar«, antwortete ENA. »Dich auf die Welt zu bringen.«
Auf welche Welt?, hätte ich fast gefragt, aber da hatte sie sich schon umgedreht und sich mit langen Schritten in Richtung Hypothalamus aufgemacht. Ich heftete mich an ihre Fersen. Den ganzen Weg über redeten wir kaum. Wir gaben uns den geeigneten Blutströmen hin und kamen in der rosaroten und furchteinflößenden Region an, von der aus ich meine Reise angetreten hatte. ENA sah sich um und entdeckte das Einstichloch, durch das ich eingetreten war. Sie hielt mich am Arm, platzierte mich in eine blutleere Höhle und sagte: »Du wartest hier, ich muss allerdings weg. Sollte ich irrtümlicherweise in der Spritze landen, würde das Duygu Hanıms Ende bedeuten. Viel Glück.«
An einen Abschied mit Umarmung zu denken wäre dumm gewesen. Wir waren Menschen aus unterschiedlichen Welten. Ich gehörte dem Atomzeitalter an, sie war ein subatomares Teilchen. Ich winkte der Egonukleinsäure, der ich um ein Haar mein Leben gewidmet hätte. Meinen Gruß erwiderte sie mit einer seltsamen Kieferbewegung, dann stürzte sie sich schnell in den rosafarbenen Fluss des Gehirns. Das sollte das letzte Mal sein, dass ich sie sah.
Als ich beobachtete, wie die Spritze die samtene Haut meiner Liebsten durchbohrte und in die Tiefen ihres Gewebes vorstieß, machte ich einen Kopfsprung in das Blutbecken und schwamm im Bruststil zu dem Stahl hin. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis Öztürk mich mittels einer Pinzette zwischen Objektträger und Deckglas hervorgezogen und unter Einsatz der Supervergrößerungsfunktion des Superverkleinerers in meinen ursprünglichen Zustand zurückverwandelt hatte. Meine Superheldenzunge ließ es nicht zu, zu sagen, ich sei ohnmächtig geworden; ich war etwas eingenickt. Als ich meine Augen aufschlug, traf mein Blick auf zwei freundlich lächelnde Gesichter. Gemeinsam mit Öztürk fixierte Duygu Hanım wenn auch nicht meine Augen, so doch eine Stelle im Augenbrauenbereich und lächelte. »Wir haben es geschafft, Kumpel«, schüttelte mich Öztürk. »Das heißt, du hast es geschafft.«
Ich kehrte ihnen den Rücken. »Deckt mich zu.«
Sie begannen miteinander zu flüstern. Ich dachte, dass sie meine Lage dazu nutzen, miteinander zu flirten. Natürlich hasste ich die beiden nicht. Denn wie der schnauzbärtige Nietzsche gesagt hatte, war der am einsamsten, der am höchsten stand. Bevor ich einschlief, hörte ich, wie sie
Weitere Kostenlose Bücher