Söhne und siechende Seelen
nach dem Telefonhörer. Metin Bilgin nahm ab, wie man es von ihm erwarten würde: »Wer sind Sie?«
»Ich habe den Mordfall gelöst«, gab ich zur Antwort.
»Ich wiederhole meine Frage: Wer sind Sie?«
Der Kerl würde mir nicht erlauben, eine schwungvolle Rede zu halten. »Peter Pan aus dem Land der Alpträume, Sie erinnern sich bestimmt?«
»Ich höre«, sagte er streng.
»Sollten Sie Antworten auf die Fragen haben wollen, die Sie beschäftigen, dann erwarte ich Sie heute zu Hicabi Beys Totengebet.«
»Treib keine Spielchen mit mir, Junge. Sonst mach ich dich fertig.«
Das Blut schoss mir in den Kopf. »Sie können mir gar nichts anhaben. Sie kloppen nur große Sprüche. Ich habe Ihnen gesagt, was ich zu sagen hatte, der Rest ist Ihre Sache«, sagte ich und knallte den Hörer auf.
Schnell schlüpfte ich in T-Shirt und Hose und flitzte aus der Wohnung. Gerade als ich durch die Haustür treten wollte, sah ich, dass ein Umschlag in unserem Briefkasten lag. Ein Umschlag aus dem Büro meiner Eltern, der wohl kein gutes Omen enthalten dürfte. Ich zog das Kuvert heraus, und als ich meine eigene krakelige Handschrift erkannte, fiel es mir nach einer kurzen Schrecksekunde wieder ein: Das war Hakans Brief. Er war also nicht verschwunden, wie Hakan befürchtet hatte, sondern nur etwas verspätet. Wer weiß, was der arme Dummkopf in dem Brief alles zusammengeschwafelt hatte. Ich dachte daran, ihm zu antworten, um mich bei ihm einzuschmeicheln. Demnächst. Wenn das ganze Tohuwabohu vorbei wäre. Ich faltete den Brief in der Mitte und steckte ihn in meine Gesäßtasche.
Und zog ihn wieder heraus.
Ich starrte auf die Briefmarke in der oberen rechten Ecke des Umschlags mit dem Amtsaufdruck. Eine gewöhnliche Briefmarke zu zweihundertfünfzigtausend türkische Lira. Aber der Stempel … Der war nicht mit Gold aufzuwiegen.
Beflügelt von einer Million plötzlich auffliegender Tauben in meinem Herzen rannte ich auf die Straße. Unwillkürlich hob ich den Kopf und stellte beim Blick zu Alev Ablas Wohnung fest, dass Remziye Teyze auf dem Balkon Wäsche aufhängte. Sie hatten die Hexe also tatsächlich nicht kaltgemacht. Prima! Alles war herrlich! Freudig winkte ich der Zuhälterin ihrer eigenen Tochter, der widerlichen alten Schachtel. »Frohes Schaffen, Remziye Teyze! Heute wird Hicabi Beys Totengebet gesprochen. Kommt auf keinen Fall zu spät!«
Ich weiß nicht, was sie antwortete. In einem halbstündigen Flug brachten mich die Tauben zu dem aus zwei hässlichen Gebäuden bestehenden Amt an der Umgehungsstraße. Hier vergeudeten meine Eltern ihr Leben. Mit einer Handbewegung überbrachte ich dem Sicherheitsbeamten am Eingang die frohe Botschaft meines Eintreffens und spurtete mit Vollgas zwischen zahlreichen nebeneinander geparkten Lastern und bunten Kisten hindurch und in das größere und hässlichere der beiden Gebäude. Doch dann stellte ich fest, dass ich einige Schritte machte, jedoch trotz meines unveränderten Tempos keinen Deut vorwärts kam. Bestimmt hatte das Zerren, das ich an meinem T-Shirt-Kragen spürte, etwas mit dieser ungewohnten Situation zu tun. Mir blieb keine Wahl, als vom Gas runterzugehen, dann drehte ich mich zu dem unverschämten Kerl um. »Mutullah Amca.«
»Was gibt’s? Wohin so eilig?«
»Ich hab gehört, dass es freie Stellen als Personalbusfahrer gibt, da wollte ich mich beeilen.«
In den matten Augen Mutullah Amcas blitzte ein Funke auf. »Gut Ding«, hub er an, »will Weile haben«, beendete er. Natürlich wollte er einem kleinen Kind keine Angst machen. So bestätigte sich auch meine Vorstellung von ihm als einem besonnenen Mann. Mittlerweile hatte er seinen Griff an meinem Kragen etwas gelockert.
»Dich schickt der liebe Gott, Mutullah Amca. Darf ich dich um deine Hilfe bitten?«
»Na, dann bitte mal.«
»Kannst du für mich die Liste mit den Namen jener finden, die die letzte Beamtenprüfung bestanden haben?«
Nachdenklich kratzte Mutullah Amca sich am Kinn. »Wozu brauchst du denn diese Liste?«
»Mutullah Amca, was ich am meisten an dir liebe, ist, dass du keine unnötigen Fragen stellst. Ich bitte dich, hilf mir.«
Ein unmerkliches Lächeln zeigte sich in Mutullah Amcas Gesicht. Mit seinem Kopf deutete er auf das Anschlagbrett, das gegenüber an der Wand hing. Ich verabschiedete mich mit einem freundschaftlichen Lächeln von ihm, warf einen Blick auf die Tafel und ging dann in Richtung Aufzug. Diesmal mit langsameren Schritten. Im vierten Stock stieg ich aus, begab mich
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