Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
her. Schon als junger Mann verspürte er den heißen Wunsch, Einsicht in die Natur von Mensch und Universum zu erlangen. Aber nachdem er Philosophie studiert hatte, wurde ihm vor allem seine eigene Unwissenheit bewusst.«
»Ungefähr wie Sokrates?«
»Ungefähr so, ja. Wie Sokrates war er außerdem überzeugt davon, dass uns sichere Erkenntnis nur die Vernunft geben kann. Wir können uns nie auf das verlassen, was in alten Büchern steht. Wir können nicht einmal dem vertrauen, was unsere Sinne uns erzählen.«
»Das meinte Platon auch. Er meinte, dass uns nur die Vernunft sicheres Wissen bringen kann.«
»Genau. Von Sokrates und Platon führt eine direkte Linie über Augustinus bis zu Descartes. Allesamt waren sie ausgeprägte Rationalisten. Sie hielten die Vernunft für die einzige sichere Quelle der Erkenntnis. Nach umfassenden Studien erkannte Descartes, dass auf das überlieferte Wissen aus dem Mittelalter nicht notwendigerweise Verlass war. Du kannst ihn vielleicht mit Sokrates vergleichen, der sich nicht auf die allgemein verbreiteten Auffassungen verließ, die ihm auf dem Markt in Athen begegneten. Und was macht man dann, Sofie? Kannst du mir darauf antworten?«
»Man fängt an, auf eigene Faust zu philosophieren.«
»Genau. Descartes beschloss jetzt, Europa zu bereisen – so wie Sokrates sein Leben im Gespräch mit Menschen in Athen verbrachte. Er selber berichtet, dass er von nun an nur noch das Wissen suchen wollte, das er in sich selber oder ›im großen Buch der Welt‹ finden konnte. Deshalb trat er ins Heer ein und konnte sich so an verschiedenen Orten in Mitteleuropa aufhalten. Später verbrachte er einige Jahre in Paris. Im Mai 1629 reiste er dann in die Niederlande, wo er sich fast zwanzig Jahre aufhielt, während er an seinen philosophischen Schriften arbeitete. 1649 lud ihn Königin Christina nach Schweden ein. Aber dieser Aufenthalt brachte ihm eine Lungenentzündung ein, an der er im Winter 1650 starb.«
»Dann ist er ja bloß 54 Jahre alt geworden!«
»Aber er sollte auch nach seinem Tod noch von großer Bedeutung für die Philosophie sein. Ohne Übertreibung können wir sagen, dass Descartes der Begründer der Philosophie der neueren Zeit war. Nach der berauschenden Neuentdeckung von Mensch und Natur in der Renaissance entstand abermals das Bedürfnis, die zeitgenössischen Gedanken in einem einzigen zusammenhängenden philosophischen System zu vereinen. Der erste große Systembauer war Descartes und ihm folgten Spinoza und Leibniz, Locke und Berkeley, Hume und Kant .«
»Was verstehst du unter einem ›philosophischen System‹?«
»Darunter verstehe ich eine Philosophie von Grund auf, die versucht, eine Antwort auf alle wichtigen philosophischen Fragen zu finden. Die Antike hatte große Systembauer wie Platon und Aristoteles. Das Mittelalter hatte Thomas von Aquin, der eine Brücke zwischen der Philosophie des Aristoteles und der christlichen Theologie schlagen wollte. Dann kam die Renaissance – mit einem Wirrwarr von alten und neuen Gedanken über Natur und Wissenschaft, Gott und den Menschen. Erst im 17. Jahrhundert versuchte die Philosophie wieder die neuen Gedanken in ein philosophisches System zu bringen. Der Erste, der diesen Versuch machte, war Descartes. Er gab den Startschuss zu dem, was für die folgenden Generationen zum wichtigsten philosophischen Projekt werden sollte. Vor allem beschäftigte ihn das, was wir wissen können, also die Frage nach der Sicherheit unserer Erkenntnis . Die zweite große Frage, die ihm am Herzen lag, war das Verhältnis zwischen Körper und Seele . Diese beiden Problematiken sollten die philosophische Diskussion der nächsten hundertfünfzig Jahre prägen.«
»Dann war er seiner Zeit voraus.«
»Aber die Fragen lagen auch zu seiner Zeit in der Luft. Bei der Frage, wie wir sicheres Wissen erlangen können, brachten viele ihren totalen philosophischen Skeptizismus zum Ausdruck. Sie meinten, die Menschen müssten sich einfach damit abfinden, nichts zu wissen. Aber Descartes fand sich nicht damit ab. Denn wenn er das getan hätte, wäre er kein echter Philosoph gewesen. Wieder können wir eine Parallele zu Sokrates ziehen, der sich nicht mit der Skepsis der Sophisten zufrieden gab. Gerade zu Lebzeiten von Descartes hatte die neue Naturwissenschaft eine Methode entwickelt, die eine ganz sichere und exakte Beschreibung der Naturprozesse liefern sollte. Descartes musste sich fragen, ob es nicht eine ebenso sichere und exakte Methode für die
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