Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Bewusstsein des Menschen – oder die menschliche Seele – entstehe durch die Bewegung winziger Partikel im Gehirn.«
»Dann meinte er dasselbe wie zweitausend Jahre vor ihm Demokrit.«
»Idealismus und Materialismus ziehen sich wie rote Fäden durch die gesamte Geschichte der Philosophie. Aber nur selten sind beide Auffassungen so deutlich zur selben Zeit aufgetreten wie im Barock. Der Materialismus wurde durch die neue Naturwissenschaft ständig neu bestärkt. Newton wies darauf hin, dass dieselben Gesetze für die Bewegung überall im ganzen Universum gelten. Er machte die Gesetze der Schwerkraft und der Körperbewegungen für alle Veränderungen in der Natur verantwortlich – auf der Erde wie im Weltall. Alles wird also von derselben unwandelbaren Gesetzmäßigkeit gelenkt – oder von derselben Mechanik . Im Prinzip können wir deshalb jede Veränderung in der Natur mit mathematischer Genauigkeit berechnen. Damit lieferte Newton die letzten Bausteine zum so genannten mechanistischen Weltbild .«
»Stellte er sich die Welt als große Maschine vor?«
»Genau so. Das Wort ›mechanisch‹ stammt vom griechischen Wort ›méchané‹ ab, und das bedeutet Maschine. Aber wir sollten uns merken, dass weder Hobbes noch Newton einen Widerspruch zwischen einem mechanistischen Weltbild und dem Glauben an Gott sahen. Das galt nicht für alle Materialisten des 18. und 19. Jahrhunderts. Der französische Arzt und Philosoph Lamettrie schrieb um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein Buch mit dem Titel ›L’homme plus que machine‹. Das bedeutet: ›Der Mensch – eine perfekte Maschine‹. Wie das Bein Muskeln zum Gehen hat, so habe, schrieb er, das Gehirn ›Muskeln‹ zum Denken. Später brachte der französische Mathematiker Laplace mit folgendem Gedanken eine extrem mechanistische Auffassung zum Ausdruck: Wenn eine Intelligenz die Position aller Stoffpartikel zu einem gewissen Zeitpunkt wüsste, dann wäre nichts unsicher, und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen. Es läge dann ›in den Karten‹, was passieren wird. Dieses Weltbild nennen wir deterministisch .«
»Dann kann der Mensch aber keinen freien Willen haben.«
»Nein, dann ist alles das Produkt von mechanischen Prozessen – auch unsere Gedanken und Träume. Im 19. Jahrhundert behaupteten deutsche Materialisten, die Denkprozesse verhielten sich zum Gehirn wie der Urin zu den Nieren und die Galle zur Leber.«
»Aber Urin und Galle sind stofflich. Die Gedanken nicht.«
»Da sagst du etwas Wichtiges. Ich kann dir eine Geschichte erzählen, die dasselbe zum Ausdruck bringt. Und zwar diskutierten einmal ein russischer Kosmonaut und ein russischer Gehirnspezialist über Religion. Der Gehirnforscher war Christ, der Kosmonaut nicht. ›Ich war schon oft draußen im Weltraum‹, protzte der Kosmonaut, ›aber ich habe weder Gott noch Engel gesehen.‹ – ›Und ich habe schon viele kluge Gehirne operiert‹, antwortete der Gehirnforscher, ›aber ich habe nirgendwo auch nur einen einzigen Gedanken entdeckt.‹«
»Was nicht bedeutet, dass es keine Gedanken gibt.«
»Nein. Es stellt nur klar, dass Gedanken etwas ganz anderes sind als alles, was sich amputieren oder in immer kleinere Teilchen zerteilen lässt. Es ist zum Beispiel nicht so leicht, eine Wahnvorstellung durch eine Operation zu entfernen. Dazu sitzt sie gewissermaßen zu tief. Ein wichtiger Philosoph des 17. Jahrhunderts namens Leibniz wies darauf hin, dass der große Unterschied zwischen allem, was aus Stoff und allem, was aus Geist gemacht ist, eben darin besteht, dass das Stoffliche in immer kleinere Teile zerlegt werden kann. Aber die Seele lässt sich nicht in Stücke schneiden.«
»Nein, was sollte man dazu auch für ein Messer nehmen?«
Alberto schüttelte nur den Kopf. Dann zeigte er auf den Tisch zwischen ihnen und sagte:
»Die beiden wichtigsten Philosophen des 17. Jahrhunderts waren Descartes und Spinoza. Auch sie beschäftigen sich mit Fragen wie dem Verhältnis zwischen Seele und Körper und diese beiden Philosophen werden wir uns etwas genauer ansehen.«
»Schieß nur los. Aber wenn wir bis sieben nicht fertig sind, muss ich meine Mutter anrufen.«
Descartes
... er wollte alle alten Materialien vom Bauplatz entfernen ...
Alberto war aufgestanden und hatte den roten Umhang abgelegt. Jetzt legte er ihn über einen Stuhl und machte es sich wieder auf dem Sofa gemütlich.
» René Descartes wurde 1596 geboren und reiste zeitlebens viel in Europa hin und
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