Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
die Augen blickte. Sofort durchlief das Tier ein kräftiges Zucken. Gleich fängt er an zu bellen, dachte Sofie.
Seine Kiefer fingen an zu vibrieren, aber Hermes knurrte nicht und bellte auch nicht. Er öffnete den Mund und sagte:
»Herzlichen Glückwunsch, Hilde!«
Sofie saß wie versteinert da. Hatte der Hund wirklich mit ihr geredet?
Nein, sie musste sich das eingebildet haben, weil sie die ganze Zeit an Hilde dachte. Im tiefsten Herzen war sie aber doch davon überzeugt, dass Hermes diese drei Wörter gesagt hatte. Und zwar in einem tiefen, klangvollen Baß.
Im nächsten Moment war alles wie vorher. Hermes bellte zweimal demonstrativ – wie um zu vertuschen, dass er soeben mit Menschenstimme gesprochen hatte – und trottete weiter auf Albertos Haus zu. Ehe sie ins Haus hineingingen, blickte Sofie zum Himmel empor. Den ganzen Tag über war schönes Wetter gewesen, aber nun ballten sich in der Ferne schwere Wolken zusammen.
Als Alberto aufmachte, sagte Sofie:
»Bitte keine Höflichkeitsfloskeln. Du bist ein Trottel, und das weißt du auch.«
»Was ist denn jetzt, mein Kind?«
»Der Major hat Hermes das Sprechen beigebracht.«
»Ach herrje! So weit ist es schon gekommen?«
»Ja, stell dir das vor.«
»Und was hat er gesagt?«
»Dreimal darfst du raten.«
»Er hat wohl ›Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!‹ gesagt oder so.«
»Bingo.«
Alberto ließ Sofie ins Haus. Auch heute hatte er sich wieder verkleidet. Nicht sehr viel anders als beim letzten Mal, nur wies sein Kostüm heute nicht ganz so viele Schleifen und Bänder und Spitzen auf.
»Aber das ist noch nicht alles«, sagte Sofie jetzt.
»Was meinst du damit?«
»Hast du den Zettel nicht im Briefkasten gefunden?«
»Ach den – den habe ich sofort weggeworfen.«
»Von mir aus kann er sich immer in die Hose machen, wenn er an Berkeley denkt. Aber was hat dieser Philosoph denn an sich, das dazu reizt?«
»Werden wir ja sehen.«
»Aber du erzählst doch heute von ihm?«
»Heute, ja.«
Alberto machte es sich gemütlich. Dann sagte er:
»Als wir zuletzt hier gesessen haben, habe ich von Descartes und Spinoza erzählt. Wir sind übereingekommen, dass sie eine wichtige Gemeinsamkeit haben. Nämlich, dass beide ausgeprägte Rationalisten sind.«
»Und ein Rationalist ist jemand, der an die Wichtigkeit der Vernunft glaubt.«
»Ja, ein Rationalist glaubt an die Vernunft als Quelle des Wissens. Er glaubt oft an gewisse angeborene Ideen des Menschen – die also unabhängig von jeglicher Erfahrung im Menschen existieren. Und je klarer eine solche Idee oder Vorstellung ist, umso sicherer ist auch, dass sie einer wirklichen Gegebenheit entspricht. Du weißt doch noch, dass Descartes eine klare und deutliche Vorstellung von einem ›vollkommenen Wesen‹ hatte. Aus dieser Vorstellung schließt er, dass es wirklich einen Gott gibt.«
»Ich bin nicht besonders vergesslich.«
»Dieses rationalistische Denken war für die Philosophie des 17. Jahrhunderts typisch. Auch im Mittelalter war sie stark vertreten und wir kennen sie auch von Platon und Sokrates. Im 18. Jahrhundert aber wurde sie einer immer tiefer schürfenden Kritik ausgesetzt. Mehrere Philosophen vertraten den Standpunkt, dass wir überhaupt keine Bewusstseinsinhalte haben, solange wir noch keine sinnlichen Erfahrungen haben. Eine solche Ansicht wird Empirismus genannt.«
»Und du willst heute über diese Empiristen erzählen?«
»Ich will es versuchen. Die wichtigsten Empiristen – oder Erfahrungsphilosophen – waren Locke, Berkeley und Hume , alle drei waren Briten. Die tonangebenden Rationalisten des 17. Jahrhunderts waren der Franzose Descartes , der Niederländer Spinoza und der Deutsche Leibniz . Deswegen unterscheiden wir gern zwischen dem englischen Empirismus und dem kontinentalen Rationalismus .«
»Von mir aus, aber das sind ganz schön viel Worte. Kannst du wiederholen, was wir unter ›Empirismus‹ verstehen?«
»Ein Empiriker leitet alles Wissen über die Welt von dem her, was die Sinne uns erzählen. Die klassische Formulierung einer empiristischen Haltung stammt von Aristoteles, der sagte, nichts sei im Bewusstsein, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist. Diese Ansicht beinhaltet eine klare Kritik an Platon, der glaubte, der Mensch bringe angeborene Ideen aus der Ideenwelt mit. Locke wiederholte die Worte des Aristoteles, und wenn Locke sie nun aufgreift, verwendet er sie gegen Descartes.«
»Im Bewusstsein gibt es nichts, was nicht zuerst in den Sinnen
Weitere Kostenlose Bücher