Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
ich den Unterschied sehe.«
»Gott ist kein Puppenspieler, der an den Fäden zieht und dadurch bestimmt, was passiert. So ein ›Marionettenmeister‹ lenkt die Puppen von außen und ist also die ›äußere Ursache‹. Aber Gott lenkt die Welt nicht so. Gott lenkt die Welt durch die Naturgesetze. Auf diese Weise ist Gott – oder die Natur – die innere Ursache für alles, was geschieht. Das heißt, dass alles in der Natur notwendigerweise geschieht. Spinoza hatte ein deterministisches Bild des Naturlebens.«
»Ich glaube, du hast schon einmal etwas Ähnliches gesagt.«
»Vielleicht denkst du an die Stoiker . Auch sie wiesen darauf hin, dass alles notwendigerweise geschieht. Deshalb war es ihnen so wichtig, allen Ereignissen mit ›stoischer Ruhe‹ zu begegnen. Der Mensch sollte sich von seinen Gefühlen nicht mitreißen lassen. Das sagt, wenn wir das ganz kurz fassen wollen, auch Spinozas Ethik.«
»Ich glaube, ich verstehe, was er meint. Aber mir gefällt der Gedanke nicht, dass ich nicht über mich selber bestimme.«
»Machen wir doch einfach einen Sprung zurück zu diesem Steinzeitjungen, der vor dreißigtausend Jahren lebte. Als er größer wurde, warf er seinen Speer nach Tieren, liebte eine Frau, die die Mutter seiner Kinder wurde, und du kannst außerdem sicher sein, dass er die Götter seines Stammes anbetete. Was denkst du dir dabei, wenn du behauptest, er hätte das alles selber entschieden?«
»Ich weiß nicht.«
»Oder stell dir einen Löwen in Afrika vor. Meinst du, der entschließt sich zu einem Leben als Raubtier? Macht er sich deshalb über eine lahme Antilope her? Hätte er sich vielleicht lieber für ein Leben als Vegetarier entscheiden sollen?«
»Nein, der Löwe lebt nach seiner Natur.«
»Oder eben nach den Naturgesetzen. Das machst du auch, Sofie, denn auch du bist Natur. Jetzt kannst du natürlich – unterstützt von Descartes – einwenden, dass der Löwe ein Tier ist und kein Mensch mit freien Geisteskräften. Aber denk an ein neugeborenes Kind. Es schreit und stellt sich an, und wenn es keine Milch bekommt, dann lutscht es eben am Finger. Hat dieser Säugling einen freien Willen?«
»Nein.«
»Und wann bekommt dieses kleine Kind einen freien Willen? Mit zwei Jahren rennt so eine Kleine durch die Gegend und zeigt wild auf alles, was sie sieht. Mit drei Jahren quengelt sie herum und mit vier Jahren hat sie plötzlich Angst im Dunkeln. Wo steckt die Freiheit, Sofie?«
»Ich weiß nicht.«
»Mit fünfzehn steht sie vor dem Spiegel und experimentiert mit Schminke. Trifft sie nun ihre persönlichen Entscheidungen und macht, was sie will?«
»Ich verstehe, was du meinst.«
»Sie ist Sofie Amundsen, da ist sie sicher. Aber sie lebt auch nach den Gesetzen der Natur. Wichtig ist, dass sie das nicht selber einsieht, denn hinter allem und jedem, was sie tut, verbergen sich ungeheuer viele und ungeheuer komplizierte Ursachen.«
»Ich glaube, ich will nicht mehr hören.«
»Du musst aber trotzdem noch eine letzte Frage beantworten: Zwei gleich alte Bäume wachsen in einem großen Garten. Der eine Baum steht an einer Stelle mit viel Sonne und hat reichlich Zugang zu nährstoffreichem Boden und Wasser. Der andere Baum wächst im Schatten auf schlechtem Boden. Welcher dieser beiden Bäume trägt die meisten Früchte?«
»Natürlich der mit den besten Bedingungen zum Wachsen.«
»Spinoza zufolge ist dieser Baum frei. Er hatte die volle Freiheit, die in ihm wohnenden Möglichkeiten zu entwickeln. Aber wenn es sich um einen Apfelbaum handelt, dann hat er doch nicht die Möglichkeit, entweder Äpfel oder Pflaumen zu tragen. Und genauso ist es mit uns Menschen. Politische Verhältnisse zum Beispiel können uns in unserer Entwicklung und unserem persönlichen Wachstum behindern. Ein äußerer Zwang kann uns hemmen. Nur wenn wir frei die in uns liegenden Möglichkeiten entwickeln können, leben wir als freie Menschen. Aber trotzdem werden wir genauso von inneren Anlagen und äußeren Voraussetzungen geleitet wie der Steinzeitjunge im Rheinland, der Löwe in Afrika oder der Apfelbaum im Garten.«
»Ich glaube, ich kann bald nicht mehr.«
»Spinoza betont, dass nur ein einziges Wesen voll und ganz ›Ursache seiner selbst‹ ist und in voller Freiheit handeln kann. Nur Gott oder die Natur stellen diese freie und ›unzufällige‹ Entfaltung dar. Ein Mensch kann nach einer Freiheit streben, um ohne äußeren Zwang leben zu können. Aber er wird niemals freien Willen erlangen. Wir bestimmen
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