Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
gewesen ist?«
»Wir haben keine angeborenen Ideen oder Vorstellungen von der Welt. Wir wissen überhaupt nichts von der Welt, in die wir hineingesetzt werden, ehe wir sie nicht wahrgenommen haben. Wenn wir also eine Vorstellung oder eine Idee haben, die wir nicht mit erfahrenen Tatsachen in Verbindung bringen können, dann ist das eine falsche Vorstellung. Wenn wir zum Beispiel Wörter wie ›Gott‹, ›Ewigkeit‹ oder ›Substanz‹ verwenden, dann läuft unsere Vernunft im Leerlauf. Denn niemand hat je Gott, die Ewigkeit oder das erfahren, was die Philosophen ›Substanz‹ nennen. Auf diese Weise lassen sich gelehrte Abhandlungen verfassen, die im Grunde keine wirklich neue Erkenntnis bringen. Eine solche genau überlegte Philosophie kann vielleicht beeindrucken, aber sie ist nur Gedankenspinnerei. Die Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts hatten viele solcher gelehrten Abhandlungen geerbt. Nun wurden diese unter die Lupe genommen. Leeres Gedankengut musste aus ihnen hinausgespült werden. Vielleicht können wir das mit dem Goldwaschen vergleichen. Das meiste ist Sand und Lehm, aber ab und zu funkelt dazwischen doch auch ein Goldkorn auf.«
»Und solche Goldkörner sind echte Erfahrungen?«
»Oder jedenfalls Gedanken, die sich mit menschlichen Erfahrungen in Verbindung bringen lassen. Für die britischen Empiriker war es wichtig, alle menschlichen Vorstellungen zu untersuchen, um festzustellen, ob sie mit echten Erfahrungen belegt werden können. Aber nehmen wir uns einen Philosophen nach dem anderen vor.«
»Schieß los.«
»Der erste war der Engländer John Locke , der von 1632 bis 1704 lebte. Sein wichtigstes Buch hieß ›An Essay Concerning Human Understanding‹, ›Versuch über den menschlichen Verstand‹, und erschien 1690. Darin versucht er zwei Fragen zu klären. Erstens fragt er, woher die Menschen ihre Gedanken und Vorstellungen nehmen. Und zweitens fragt er, ob wir Vertrauen zu dem haben können, was unsere Sinne uns erzählen.«
»Ganz schöner Brocken von einem Projekt.«
»Nehmen wir ein Problem nach dem anderen. Locke ist davon überzeugt, dass alle unsere Gedanken und Vorstellungen nur ein Reflex von dem sind, wovon wir schon einmal Sinneseindrücke, Empfindungen hatten. Ehe wir etwas empfinden, ist unser Bewusstsein wie eine ›tabula rasa‹ – eine ›unbeschriebene Tafel‹.«
»Klingt einleuchtend.«
»Ehe wir etwas empfinden, ist unser Bewusstsein also genauso leer wie eine Tafel, ehe der Lehrer das Klassenzimmer betritt. Locke vergleicht das Bewusstsein auch mit einem unmöblierten Zimmer. Aber dann setzen unsere Empfindungen ein. Wir sehen die Welt um uns herum, wir riechen, schmecken, fühlen und hören. Und niemand tut das intensiver als kleine Kinder. Auf diese Weise entstehen einfache Sinnesideen . Aber das Bewusstsein nimmt diese äußeren Eindrücke nicht passiv in sich auf. Auch im Bewusstsein passiert etwas. Die einfachen Sinnesideen werden durch Nachdenken, Überlegung, Glaube und Zweifel bearbeitet. Auf diese Weise entsteht das, was Locke Reflexionsideen nennt. Er unterscheidet also zwischen ›Empfindung‹ und ›Reflexion‹. Denn das Bewusstsein ist nicht nur ein passiver Empfänger. Es ordnet und bearbeitet alle hereinströmenden Sinneseindrücke. Und genau hier müssen wir auf der Hut sein.«
»Auf der Hut?«
»Locke betont, dass wir durch die Sinne einzig und allein einfache Eindrücke aufnehmen. Wenn ich zum Beispiel einen Apfel esse, spüre ich den ganzen Apfel in einem einzigen einfachen Eindruck. In Wirklichkeit nehme ich eine ganze Reihe solcher einfachen Eindrücke auf – dass etwas grün ist, frisch riecht und saftig und säuerlich schmeckt. Erst nachdem ich viele Äpfel gegessen habe, denke ich: Jetzt esse ich ›einen Apfel‹. Locke sagt, dass wir uns nun eine zusammengesetzte Vorstellung eines Apfels gebildet haben. Als wir klein waren und zum ersten Mal einen Apfel aßen, hatten wir keine solche zusammengesetzte Vorstellung. Aber wir sahen etwas Grünes, wir schmeckten etwas Frisches und Saftiges, ham, ham ... naja, ein bisschen sauer war es auch. Nach und nach bündeln wir viele Sinnesempfindungen und bilden Begriffe wie ›Apfel‹, ›Birne‹ und ›Apfelsine‹. Aber alles Material für unser Wissen über die Welt verdanken wir letztlich unserem Sinnesapparat. Wissen, das sich nicht auf einfache Sinneseindrücke zurückführen lässt, ist deshalb falsches Wissen und muss folglich verworfen werden.«
»Wir können jedenfalls sicher
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