Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
dein ›Ich‹ auffasst.«
»Dann muss ich zuerst fragen, ob die Ich-Vorstellung einfach oder zusammengesetzt ist.«
»Und zu welchem Ergebnis kommst du?«
»Ich muss wohl zugeben, dass ich mich ziemlich zusammengesetzt fühle. Ich bin zum Beispiel ziemlich launisch. Und es fällt mir schwer, mich für etwas zu entscheiden. Außerdem kann ich ein und denselben Menschen mögen und verabscheuen.«
»Also ist deine Ich-Vorstellung eine zusammengesetzte.«
»Okay. Nun muss ich fragen, ob ich einen entsprechenden zusammengesetzten Eindruck dieses Ichs habe. Und den habe ich doch wohl? Den habe ich doch die ganze Zeit?«
»Macht dich das denn unsicher?«
»Ich verändere mich die ganze Zeit. Ich bin heute nicht mehr dieselbe wie vor vier Jahren. Meine Laune und meine Vorstellung von mir selber ändern sich von einer Minute auf die andere. Es kommt vor, dass ich mich plötzlich wie ein ganz neuer Mensch fühle.«
»Also ist das Gefühl, einen unveränderlichen Persönlichkeitskern zu haben, eine falsche Vorstellung. Unsere Ich-Vorstellung besteht in Wirklichkeit aus einer langen Kette aus Einzeleindrücken, die du noch nie gleichzeitig erlebt hast. Hume spricht von einem ›Bündel verschiedener Bewusstseinsinhalte, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind‹. Unser Bewusstsein sei ›eine Art Theater‹, auf dem diese verschiedenen Inhalte ›nacheinander auftreten, kommen und gehen, und sich in unendlicher Mannigfaltigkeit der Stellungen und Arten der Anordnung untereinander mengen‹. Hume geht es also darum, dass wir keine wie auch immer geartete Grundpersönlichkeit haben, hinter oder unter der solche Auffassungen und Stimmungen kommen und gehen. Es ist wie mit den Bildern auf einer Kinoleinwand: weil sie so rasch wechseln, sehen wir nicht, dass der Film aus Einzelbildern zusammengesetzt ist. Eigentlich hängen diese Bilder nicht zusammen, das heißt, in Wirklichkeit ist der Film eine Summe von Augenblicken.«
»Ich glaube, ich gebe auf.«
»Heißt das, dass du die Vorstellung aufgibst, einen unveränderlichen Persönlichkeitskern zu haben?«
»Ja, das bedeutet es wohl.«
»Und noch vor einem Augenblick warst du ganz anderer Meinung! Ich muss noch hinzufügen, dass Humes Analyse des menschlichen Bewusstseins und sein Leugnen eines unveränderlichen Persönlichkeitskerns bereits 2500 Jahre zuvor am anderen Ende der Welt vorgetragen wurden.«
»Von wem denn?«
»Von Buddha . Es ist fast unheimlich, wie gleich sich beide ausdrücken. Buddha betrachtete das Menschenleben als ununterbrochene Reihe von mentalen und physischen Prozessen, die den Menschen jeden Augenblick aufs Neue verändern. Der Säugling ist nicht derselbe wie der Erwachsene und ich bin heute nicht derselbe wie gestern. Von nichts könne ich sagen, das gehört mir, sagte Buddha, und von nichts könne ich sagen, das bin ich. Es gibt also kein Ich und keinen unveränderlichen Persönlichkeitskern.«
»Ja, das hat überraschende Ähnlichkeit mit Hume.«
»Als Weiterführung der Idee eines unveränderlichen Ichs hatten viele Rationalisten es auch für selbstverständlich gehalten, dass der Mensch eine unsterbliche Seele hat.«
»Aber auch das ist eine falsche Vorstellung?«
»Das sagen wenigstens Hume und Buddha. Weißt du, was Buddha unmittelbar vor seinem Tod zu seinen Jüngern gesagt haben soll?«
»Nein, woher soll ich das denn wissen?«
»›Dem Verfall unterworfen sind alle zusammengesetzten Dinge.‹ Hume hätte vielleicht dasselbe sagen können. Oder von mir aus auch Demokrit. Wir wissen jedenfalls, dass Hume jeden Versuch zurückwies, die Unsterblichkeit der Seele oder die Existenz Gottes zu beweisen. Das bedeutet nicht, dass er beides für unmöglich hielt, aber zu glauben, es sei möglich, religiösen Glauben mit der menschlichen Vernunft zu beweisen, hielt er für rationalistischen Unsinn. Hume war kein Christ; er war aber auch kein überzeugter Atheist. Er war das, was wir einen Agnostiker nennen.«
»Und das bedeutet?«
»Ein Agnostiker ist ein Mensch, der nicht weiß, ob es Gott gibt. Als Hume auf seinem Totenbett Besuch von einem Freund bekam, fragte der Freund, ob er an ein Leben nach dem Tode glaube. Und Hume soll geantwortet haben, es sei auch möglich, dass ein ins Feuer gelegtes Stück Kohle nicht brennt.«
»Ach ...«
»Die Antwort war typisch für seine bedingungslose Vorurteilslosigkeit. Er akzeptierte nur das als Wahrheit, worüber er sichere
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