Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
anderswohin gehörte? Welcher Vater würde eine Postkarte auf Irrwege senden und damit seine Tochter um ihren Geburtstagsgruß betrügen? Wieso konnte es »so am leichtesten« sein? Und vor allem: Wie sollte sie Hilde ausfindig machen?
Nein, wie sollte die arme Sofie das schaffen? Hilde blätterte um und fing mit dem zweiten Kapitel an. Es hieß »Der Zylinderhut«. Bald kam sie zu einem langen Brief, den diese geheimnisvolle Person Sofie geschrieben hatte. Hilde hielt den Atem an.
Sich dafür zu interessieren, warum wir leben, ist also kein ebenso »zufälliges« Interesse wie das am Briefmarkensammeln. Wer sich für solche Fragen interessiert, beschäftigt sich mit etwas, das die Menschen schon fast so lange diskutieren, wie wir auf diesem Planeten leben ...
»Sofie war ganz schwach.« Das war Hilde auch. Ihr Vater hatte ihr nicht nur zu ihrem 15. Geburtstag ein Buch geschrieben; er hatte noch dazu ein sehr seltsames und rätselhaftes Buch zu Stande gebracht.
Kurze Zusammenfassung: Ein weißes Kaninchen wird aus einem leeren Zylinder gezogen. Weil es ein sehr großes Kaninchen ist, nimmt dieser Trick viele Milliarden von Jahren in Anspruch. An der Spitze der dünnen Haare werden alle Menschenkinder geboren. Deshalb können sie über die unmögliche Zauberkunst staunen. Aber wenn sie älter werden, kriechen sie immer tiefer in den Kaninchenpelz. Und da bleiben sie ...
Nicht nur Sofie hatte das Gefühl, dass sie gerade dabei gewesen war, sich tief unten im Fell des weichen Kaninchens einen Platz zu suchen. Heute wurde Hilde fünfzehn. Auch sie hatte das Gefühl, sich jetzt entscheiden zu müssen, in welche Richtung sie kriechen wollte.
Sie las über die griechischen Naturphilosophen. Hilde wusste, dass ihr Vater sich für Philosophie interessierte. Er hatte in der Zeitung geschrieben, Philosophie müsse als Schulfach eingeführt werden. »Warum Philosophie zum Pflichtfach werden muss?«, hatte der Artikel geheißen. Ihr Vater hatte das Thema sogar beim Elternabend von Hildes Klasse zur Sprache gebracht. Hilde war das schrecklich peinlich gewesen.
Jetzt sah sie auf die Uhr. Es war schon halb acht. Aber ihre Mutter würde sicher erst in einer weiteren Stunde mit dem Geburtstagsfrühstück nach oben kommen, zum Glück, denn jetzt war Hilde von Sofie und den philosophischen Fragen voll in Anspruch genommen. Sie las das Kapitel über Demokrit. Zuerst sollte sich Sofie eine Frage überlegen: »Warum sind Legosteine das genialste Spielzeug der Welt?« Dann fand sie »einen großen gelben Briefumschlag« im Briefkasten.
Demokrit stimmte seinen Vorgängern darin zu, dass die beobachtbaren Veränderungen in der Natur nicht bedeuteten, dass sich wirklich etwas »veränderte«. Er nahm deshalb an, dass alles aus kleinen, unsichtbaren Bausteinen zusammengesetzt sein müsse, von denen jeder Einzelne ewig und unveränderlich ist. Demokrit nannte diese kleinsten Teilchen Atome .
Hilde regte sich schrecklich auf, als Sofie ihren roten Seidenschal unter dem Bett fand. Da war der also gelandet? Aber wieso konnte ein Schal einfach in eine Geschichte hineingeraten? Er musste doch sicher auch noch irgendwo anders sein ...
Das Kapitel über Sokrates fing damit an, dass Sofie in einer Zeitung »einige Zeilen über das norwegische UN-Regiment im Libanon« las. Typisch Papa! Es ging ihm so nah, dass sich die Leute in Norwegen zu wenig für die friedensbewahrende Arbeit der UN-Soldaten interessierten. Und wenn sich sonst niemand darum kümmerte, dann sollte wenigstens Sofie das tun. Auf diese Weise konnte man sich eine Art Aufmerksamkeit der Medien andichten.
Hilde musste lächeln, als sie im Brief des Philosophielehrers an Sofie ein »PPS« las.
Solltest du einen roten Seidenschal finden, so muss ich dich bitten, ihn sorgfältig aufzubewahren. Es kommt ja ab und zu vor, dass Gegenstände vertauscht werden. Vor allem in Schulen oder an ähnlichen Orten, und dies hier ist ja eine Philosophieschule.
Hilde hörte Schritte auf der Treppe. Das war sicher ihre Mutter mit dem Geburtstagsfrühstück. Ehe an die Tür geklopft wurde, las Hilde auch schon, wie Sofie in ihrem Geheimversteck im Garten ein Video von Alberto fand.
»Hilde hat Geburtstag, trallerallera,
wir woll’n ihr gratulieren ...«
Ihre Mutter fing schon auf halber Treppe an zu singen.
»Trallerallera ...«
»Herein!«, sagte Hilde und las über den Philosophielehrer, der Sofie jetzt direkt von der Akropolis aus ansprach. Er sah fast genauso aus wie Hildes Vater –
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