Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
konnte ihr Vater es für selbstverständlich halten, dass Sofie sie finden würde? Und es ergab einfach keinen Sinn, dass er die Karten an Sofie schickte und nicht direkt an seine Tochter ...
Auch Hilde fühlte sich, als schwebte sie im Raum, während sie über Plotin las.
Ich sage, dass in allem, was wir sehen, etwas von dem göttlichen Mysterium liegt. Wir sehen, dass es in einer Sonnenblume oder im Klatschmohn funkelt. Mehr von diesem unergründlichen Mysterium ahnen wir in einem Schmetterling, der von einem Zweig auffliegt – oder in einem Goldfisch, der durch sein Goldfischglas schwimmt. Am allernächsten kommen wir Gott jedoch in unserer eigenen Seele. Nur dort können wir mit dem großen Lebensgeheimnis vereint werden. Ja, in seltenen Momenten können wir uns selber als dieses göttliche Mysterium erleben.
Bisher gehörte das zum Schwindelerregendsten, was Hilde je gelesen hatte. Aber es gehörte gleichzeitig zum Allereinfachsten: Alles ist eins, und dieses »Eine« ist ein göttliches Mysterium, an dem alle Anteil haben.
Das war eigentlich nichts, was man glauben musste. Das ist so, dachte Hilde. Und dann soll eben jeder und jede in dieses Wort »göttlich« hineinlegen, was ihm oder ihr gerade passt.
Sie blätterte rasch zum nächsten Kapitel um. Sofie und Jorunn wollten in der Nacht zum 17. Mai einen Zeltausflug machen. Und dann gingen sie zur Majorshütte ...
Hilde hatte noch nicht viele Seiten gelesen, als sie aufgeregt vom Bett aufsprang und mit dem Ordner in den Armen ein paar Schritte durchs Zimmer machte.
So was Freches hatte sie bisher selten erlebt! Hier in der kleinen Hütte im Wald ließ ihr Vater die beiden Mädchen Kopien von allen Postkarten finden, die er Hilde in der ersten Maihälfte geschickt hatte. Und die Kopien waren wirklich echt. Hilde hatte jede Karte ihres Vaters mehrmals gelesen. Sie erkannte jedes einzelne Wort:
Liebe Hilde! Ich könnte natürlich platzen wegen all der Geheimnisse, die mit deinem Geburtstag zu tun haben, und mehrmals am Tag muss ich mich zusammenreißen, um nicht anzurufen und alles zu erzählen. Es wächst und wächst ganz einfach. Und du weißt, wenn etwas immer größer wird, ist es auch schwieriger, es für uns selber zu behalten ...
Sofie bekam von Alberto zwei neue Briefe. Sie behandelten Juden und Griechen und die beiden großen Kulturkreise. Hilde freute sich über diese weite Vogelperspektive der Geschichte. In der Schule hatten sie so etwas nie gelernt. Da gab es nur Einzelheiten und wieder Einzelheiten. Als sie den Brief beendet hatte, hatte ihr Vater ihr eine ganz neue Perspektive von Jesus und dem Christentum gegeben. Das Zitat von Goethe gefiel ihr: »Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.«
Das nächste Kapitel begann mit einem Stück Pappe, das an Sofies Küchenfenster kleben blieb. Es war natürlich ein neuer Geburtstagsgruß für Hilde.
Liebe Hilde! Ich weiß nicht, ob du immer noch Geburtstag hast, wenn du diese Karte liest. Einerseits hoffe ich das ja, jedenfalls habe ich die Hoffnung, dass noch nicht zu viele Tage vergangen sind. Dass für Sofie ein oder zwei Wochen verstreichen, bedeutet ja nicht, dass es uns genauso geht. Ich komme am 23.6. nach Hause. Dann werden wir lange auf der Hollywoodschaukel sitzen und zusammen auf den See blicken, Hilde. Wir haben uns viel zu sagen ...
Dann rief Alberto bei Sofie an und sie hörte zum ersten Mal seine Stimme.
»Bei dir hört sich das ja wie eine Art Krieg an?« – »Ich würde es wohl eher als Geisterkampf bezeichnen. Wir müssen versuchen, Hildes Aufmerksamkeit zu erregen und sie auf unsere Seite bringen, ehe ihr Vater nach Lillesand heimkommt.«
Und deshalb traf Sofie den als mittelalterlichen Mönch verkleideten Alberto Knox in einer alten Steinkirche aus dem 12. Jahrhundert.
In einer Kirche, ja. Hilde sah auf die Uhr. Viertel nach eins. Sie hatte die Zeit total vergessen.
Es war vielleicht nicht gar so schlimm, dass sie an ihrem eigenen Geburtstag die Kirche schwänzte, aber irgendetwas an diesem Geburtstag nervte sie. Sie hatte sich auch selber um viele Glückwünsche betrogen. Naja – daran war im Grunde doch kein Mangel gewesen.
Bald musste Hilde dann doch eine lange Predigt über sich ergehen lassen. Alberto machte es offenbar keine großen Probleme, auf die Kanzel zu treten. Als Hilde über Sophia las, die sich Hildegard in Visionen gezeigt hatte, musste sie wieder zum Lexikon greifen.
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