Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
durch!«
»Ja, alles dreht und dreht sich, mein Kind. Wie ein schwindliger Planet um eine brennende Sonne.«
»Und diese Sonne ist Hildes Vater?«
»So kannst du das sagen.«
»Du meinst, dass er für uns wie eine Art Gott gewesen ist?«
»Ohne rot zu werden, ja. Aber er sollte sich schämen!«
»Was ist mit Hilde selber?«
»Sie ist ein Engel, Sofie.«
»Ein Engel?«
»Hilde ist die, an die dieser ›Geist‹ sich wendet.«
»Du meinst, dass Albert Knag Hilde von uns erzählt?«
»Oder er schreibt über uns. Denn wir können den Stoff, aus dem unsere Wirklichkeit gemacht ist, nicht empfinden. Das haben wir immerhin gelernt. Wir können nicht wissen, ob unsere äußere Wirklichkeit aus Schallwellen oder aus Papier und Schrift besteht. Berkeley zufolge können wir nur wissen, dass wir aus Geist bestehen.«
»Und Hilde ist ein Engel ...«
»Sie ist ein Engel, ja. Und damit wollen wir für heute abschließen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Hilde!«
Nun erfüllte ein bläuliches Licht das Zimmer. Einige Sekunden darauf hörten sie dröhnenden Donner und das Haus wurde ordentlich erschüttert.
Alberto saß mit geistesabwesendem Blick da.
»Ich muss nach Hause«, sagte Sofie. Sie sprang auf und rannte zur Wohnungstür. Als sie die Tür aufriss, erwachte Hermes, der unter der Garderobe geschlafen hatte. Als Sofie ging, schien er zu sagen:
»Auf Wiedersehen, Hilde!«
Sofie stürzte die Treppen hinunter und rannte auf die Straße. Hier war kein Mensch zu sehen. Aber inzwischen goss es auch wie aus Kannen.
Zwei Autos platschten über den nassen Asphalt; einen Bus konnte Sofie dagegen nicht entdecken. Sie lief über den Marktplatz und weiter durch die Stadt. Im Laufen wirbelte ihr nur ein einziger Gedanke durch den Kopf.
Morgen habe ich Geburtstag, dachte sie. Und war es nicht extrabitter, einen Tag vor dem 15. Geburtstag einsehen zu müssen, dass das Leben ein Traum ist? Genauso gut könnte sie träumen, eine Million gewonnen zu haben, und, kurz bevor der große Gewinn ausgezahlt wird, begreifen, dass alles nur ein Traum gewesen war.
Sofie rannte über den nassen Sportplatz. Und nun sah sie, dass ein Mensch auf sie zugelaufen kam. Es war ihre Mutter. Wütende Blitze zerrissen den Himmel.
Mutter nahm Sofie in den Arm.
»Was ist nur mit uns los, mein Kind?«
»Ich weiß nicht«, weinte Sofie. »Es ist wie ein böser Traum.«
Bjerkely
... ein alter Zauberspiegel, den die Urgroßmutter einer Zigeunerin abgekauft hatte ...
Hilde Møller Knag erwachte im Mansardenzimmer in der alten Kapitänsvilla bei Lillesand. Sie sah auf die Uhr; es war erst sechs. Trotzdem war es schon ganz hell. Ein breiter Streifen Morgensonne bedeckte fast eine ganze Wand.
Hilde stand auf und ging ans Fenster. Unterwegs beugte sie sich über ihren Schreibtisch und riss ein Blatt vom Tischkalender. Donnerstag, 14. Juni 1990. Sie knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Papierkorb.
»Freitag, 15. Juni 1990«, stand jetzt auf dem Kalender; die Zahl strahlte ihr entgegen. Schon im Januar hatte sie auf dieses Kalenderblatt »15 Jahre« geschrieben. Sie fand, dass sie an einem Fünfzehnten fünfzehn wurde, mache einen ganz besonderen Eindruck. So etwas würde sie nie wieder erleben.
15 Jahre! War das nicht der erste Tag in ihrem »erwachsenen« Leben? Sie konnte jetzt nicht einfach wieder ins Bett gehen; außerdem war heute der letzte Schultag vor den Ferien. Heute trafen sie sich einfach nur um ein Uhr in der Kirche. Und das war noch nicht alles: In einer Woche würde ihr Vater aus dem Libanon zurückkommen. Er hatte versprochen, zum Johannistag zu Hause zu sein.
Hilde trat ans Fenster und blickte über den Garten auf den Steg und das rote Bootshaus. Das Segelboot war noch nicht für die Sommersaison gerichtet worden, aber das alte Ruderboot lag am Steg vertäut. Sie durfte nicht vergessen, nach dem heftigen Regenguss das Wasser auszuschöpfen.
Während sie über die kleine Bucht spähte, fiel ihr ein, wie sie einmal mit sechs oder sieben Jahren ins Ruderboot geklettert und ganz allein losgerudert war. Und dann war sie über Bord gefallen und hatte nur mit Mühe wieder an Land kriechen können. Klitschnass war sie durch die dichten Büsche gekrabbelt. Als sie im Garten vor dem Haus gestanden hatte, war ihre Mutter gerannt gekommen. Sie hatte das Boot und die Ruder draußen auf dem Fjord treiben sehen. Noch immer träumte Hilde manchmal von dem verlassenen Boot, das mutterseelenallein dort draußen herumschwamm. Es
Weitere Kostenlose Bücher