Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
es so viel Geheimniskrämerei gegeben hatte? Er hatte auf seinen vielen Karten aus dem Libanon immer wieder seltsame Anspielungen gemacht. Aber er hatte sich selber »eine strenge Zensur« auferlegt.
Es war ein Geschenk, das wuchs und wuchs, hatte er geschrieben. Und dann hatte er Andeutungen über ein Mädchen gemacht, das sie bald kennen lernen würde – und dem er eine Kopie von jeder Postkarte geschickt habe. Hilde hatte versucht, aus ihrer Mutter herauszubringen, was er damit meinte, aber die hatte auch keine Ahnung gehabt.
Das Allerseltsamste war die Andeutung gewesen, dass das Geschenk vielleicht mit anderen Menschen geteilt werden könne. Schließlich arbeitete er nicht umsonst bei der UNO: Wenn Hildes Vater überhaupt eine fixe Idee hatte – und er hatte sehr viele –, dann die, dass die UNO eine Art Regierungsverantwortung für die ganze Welt übernehmen sollte. »Möge die UNO eines Tages die Menschheit wirklich zusammenbringen«, hatte er auf einer Karte geschrieben.
Ob sie das Paket aufmachen durfte, ehe ihre Mutter mit Rosinenbrötchen und Limonade, Geburtstagslied und norwegischer Flagge heraufkam? Das durfte sie sicher, deshalb lag es schließlich da.
Hilde schlich durchs Zimmer und nahm das Paket vom Nachttisch. Das war vielleicht schwer! Darin steckte eine Karte: »Für Hilde, von Papa zum 15. Geburtstag«.
Sie setzte sich aufs Bett und lockerte vorsichtig das rote Seidenband. Bald konnte sie das Papier entfernen.
Es war ein großer Ordner.
War das das Geschenk? War das das Geschenk zum 15. Geburtstag, von dem so viel die Rede gewesen war? War das das Geschenk, das gewachsen und gewachsen war und außerdem mit anderen geteilt werden konnte?
Ein kurzer Blick ergab, dass der Ordner mit maschinegeschriebenen Blättern gefüllt war. Hilde erkannte die Schrifttypen der Schreibmaschine, die ihr Vater mit in den Libanon genommen hatte.
Hatte er ein ganzes Buch für sie geschrieben?
Auf dem ersten Blatt stand in großen, handgeschriebenen Buchstaben: SOFIES WELT.
Etwas weiter unten stand auch etwas in Maschinenschrift:
WAS SONNENSCHEIN FÜR DAS SCHWARZE ERDREICH IST,
IST WAHRE AUFKLÄRUNG FÜR DIE VERWANDTEN DES ERDREICHES.
N.F.S. Grundtvig
Hilde blätterte um. Ganz oben auf der nächsten Seite begann das erste Kapitel. Die Überschrift lautete: »Der Garten Eden«. Sie machte es sich auf dem Bett gemütlich, lehnte den Ordner gegen ihre Knie und fing an zu lesen:
Sofie Amundsen war auf dem Heimweg von der Schule. Das erste Stück war sie mit Jorunn zusammen gegangen. Sie hatten sich über Roboter unterhalten. Jorunn hielt das menschliche Gehirn für einen komplizierten Computer. Sofie war sich nicht so sicher, ob sie da zustimmte. Ein Mensch musste doch mehr sein als eine Maschine?
Hilde las weiter und bald hatte sie alles andere vergessen; sie vergaß sogar, dass sie Geburtstag hatte. Ab und zu konnte sich aber dennoch ein Gedanke zwischen die Zeilen schleichen.
Ob ihr Vater einen Roman geschrieben hatte? Ob er den Versuch, den großen Roman zu schreiben, wieder aufgenommen hatte und ihn im Libanon vollenden wollte? Er hatte sich so oft darüber beklagt, dass ihm da unten die Zeit so lang wurde.
Auch Sofie reiste durch die Weltgeschichte. Sicher war sie das Mädchen, das Hilde kennen lernen sollte ...
Erst wenn sie ganz stark empfand, dass sie eines Tages ganz verschwunden sein würde, ging ihr richtig auf, wie unendlich wertvoll das Leben war ... Woher kommt die Welt?... Schließlich und endlich musste irgendwann irgendetwas aus null und nichts entstanden sein. Aber war das möglich? War diese Vorstellung nicht ebenso unmöglich wie die, dass es die Welt immer schon gegeben hatte?
Hilde las und las und sie hüpfte vor Verwirrung im Bett in die Höhe, als sie las, dass Sofie Amundsen eine Ansichtskarte aus dem Libanon bekam. »Hilde Møller Knag, c/o Sofie Amundsen, Kløverveien 3...«
Liebe Hilde! Ich gratuliere dir herzlich zum 15. Geburtstag. Du verstehst sicher, dass ich dir ein Geschenk machen möchte, an dem du wachsen kannst. Verzeih, dass ich die Karte an Sofie schicke. So war es am leichtesten.
Liebe Grüße, Papa
Dieser Mistkerl! Hilde hatte ihren Papa ja immer schon für einen Schlingel gehalten, aber heute haute er sie ganz einfach um. Statt diese Karte ins Paket zu legen, hatte er sie ins Geschenk hinein gedichtet.
Aber die arme Sofie! Die war ja total verwirrt.
Warum aber schickte ein Vater eine Geburtstagskarte an Sofies Adresse, wenn sie doch offenbar
Weitere Kostenlose Bücher