Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
war ein scheußliches Erlebnis gewesen.
Der Garten war weder besonders üppig noch besonders gepflegt. Aber er war groß und er gehörte Hilde. Ein vom Wind zerzauster Apfelbaum und einige Johannisbeersträucher, die fast keine Frucht mehr trugen, hatten mit Mühe und Not die harten Winterstürme überlebt.
Zwischen Felsrücken und Gestrüpp stand auf der kleinen Rasenfläche die alte Hollywoodschaukel. Sie sah im scharfen Morgenlicht total vereinsamt aus. Besonders armselig sah sie aus, weil die Kissen im Haus waren. Hildes Mutter war am Abend wohl noch hinausgestürzt, um sie vor dem Unwetter zu retten.
Der ganze große Garten war von Birken umstanden. Auf diese Weise war er ein wenig von den ärgsten Fallböen beschützt. Wegen dieser Bäume hatte das Grundstück vor über hundert Jahren den Namen Bjerkely erhalten. Hildes Urgroßvater hatte kurz vor der Jahrhundertwende das Haus bauen lassen. Er war Kapitän eines der letzten großen Segelschiffe gewesen. Noch heute nannten viele das Haus »die Kapitänsvilla«.
An diesem Morgen war dem Garten noch anzusehen, dass es abends heftig geregnet hatte. Hilde war mehrmals vom Donner geweckt worden. Jetzt war am Himmel keine einzige Wolke zu sehen.
Nach solchen sommerlichen Regengüssen war es immer so frisch. In den letzten Wochen war es heiß und trocken gewesen und die Birken hatten hässliche gelbe Flecken auf der äußersten Blätterschicht bekommen. Jetzt war die Welt wie frisch gewaschen. An diesem Morgen schien außerdem ihre ganze Kindheit mit dem Donner verhallt zu sein.
»Ja sicher, es tut weh, wenn Knospen bersten ...« Hatte nicht irgendeine schwedische Dichterin so etwas gesagt? Oder war das eine Finnin?
Hilde trat vor den großen Messingspiegel, der über Großmutters alter Kommode hing.
Ob sie schön war? Hässlich war sie doch jedenfalls nicht? Vielleicht war sie irgendwas dazwischen ...
Sie hatte lange blonde Haare. Hilde hatte sich ihre Haare immer etwas heller oder etwas dunkler gewünscht. Dieses Zwischending von einer Haarfarbe war so nichts sagend. Positiv fand sie allerdings ihre sanften Locken. Viele ihrer Freundinnen legten sich mühsam die Haare, um Schwung hineinzubringen, aber Hilde hatte das nie nötig gehabt. Positiv fand sie auch ihre grünen Augen, knallgrün waren die. »Sind die wirklich ganz grün?«, fragten Tanten und Onkel immer, wenn sie sich über sie beugten.
Hilde überlegte, ob das Bild, das sie hier musterte, das Spiegelbild eines Mädchens oder einer jungen Frau war. Sie kam zu dem Schluss, dass es keins von beiden war. Ihr Körper sah vielleicht schon ziemlich aus wie der einer Frau; ihr Gesicht dagegen war wie ein unreifer Apfel.
Etwas an dem alten Spiegel ließ Hilde immer an ihren Vater denken. Früher hatte er unten im »Atelier« gehangen. Das Atelier lag über dem Bootshaus und diente ihrem Vater als Bibliothek, Schmollwinkel und Dichterklause. Albert, wie Hilde ihn nannte, wenn er zu Hause war, hatte immer ein großes Werk schreiben wollen. Er hatte einmal einen Roman versucht, aber es war bei diesem unvollendeten Versuch geblieben. Einige Gedichte und Skizzen aus der Schärenwelt waren in regelmäßigen Abständen in der Lokalzeitung veröffentlicht worden. Hilde war fast ebenso stolz wie er, wenn sie seinen Namen gedruckt sah. ALBERT KNAG. In Lillesand hatte dieser Name jedenfalls einen besonderen Klang. Auch der Urgroßvater hatte Albert geheißen.
Der Spiegel, ja. Vor vielen Jahren hatte ihr Vater gescherzt, es wäre vielleicht möglich, sich selber im Spiegel zuzuzwinkern, aber mit beiden Augen ginge das auf keinen Fall. Die einzige Ausnahme sei dieser Messingspiegel, denn er sei ein alter Zauberspiegel, den die Urgroßmutter gleich nach ihrer Hochzeit einer Zigeunerin abgekauft habe.
Hilde hatte es lange versucht, aber sich selber mit beiden Augen zuzuzwinkern, war genauso schwer, wie vor dem eigenen Schatten davonzulaufen. Am Ende hatte sie das alte Erbstück geschenkt bekommen. Während ihrer ganzen Kindheit versuchte sie dieses unmögliche Kunststück in regelmäßigen Abständen.
Kein Wunder, dass sie heute ein bisschen nachdenklich war. Kein Wunder, dass sie nur an sich dachte. Fünfzehn Jahre ...
Erst jetzt warf sie einen Blick auf ihren Nachttisch. Dort lag ein großes Paket. Mit wunderschönem himmelblauen Papier und einem roten Seidenband. Das musste doch ein Geburtstagsgeschenk sein!
Ob das das »Geschenk« war? Konnte das das große GESCHENK von ihrem Vater sein, das Geschenk, um das
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