Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
nicht alles, was noch passieren würde. Vielleicht schrieb er in einem Affenzahn aus Versehen irgendetwas, was er erst lange, nachdem er es geschrieben hatte, entdeckte. Und genau bei diesem »Versehen« hatten Sofie und Alberto eine gewisse Freiheit.
Wieder hatte Hilde ein fast verklärtes Gefühl, dass es Sofie und Alberto wirklich gab. Auch wenn das Meer ganz still daliegt, bedeutet das nicht, dass nicht unten in der Tiefe etwas passiert, dachte sie.
Aber warum dachte sie das?
Jedenfalls war es kein Gedanke, der sich an der Oberfläche bewegte.
In der Schule wurde Sofie beglückwünscht und besungen, wie sich das für ein Geburtstagskind gehört. Vielleicht wurde ihr besonders viel Aufmerksamkeit zuteil, weil angesichts der Zeugnisse und der Limonade ohnehin alle aufgeregt waren.
Als der Lehrer sie mit guten Wünschen für den Sommer entlassen hatte, lief Sofie nach Hause. Jorunn versuchte, sie zurückzuhalten, aber Sofie rief ihr zu, sie müsse dringend etwas erledigen.
Im Briefkasten fand sie zwei Karten aus dem Libanon. Auf beiden stand: »HAPPY BIRTHDAY – 15 YEARS«. Es waren gekaufte Geburtstagskarten.
Eine Karte war adressiert an »Hilde Møller Knag, c/o Sofie Amundsen ...« Die andere Karte dagegen – die war für Sofie selber. Beide Karten trugen den Stempel: »UN-Regiment, 15. Juni«.
Sofie las zuerst ihre eigene Karte:
Liebe Sofie Amundsen! Heute will ich auch dir zum Geburtstag gratulieren. Allerherzlichsten Glückwunsch, Sofie! Vielen Dank für alles, was du bisher für Hilde getan hast.
Liebe Grüße, Albert Knag, Major
Sofie wusste nicht so recht, wie sie darauf reagieren sollte, dass Hildes Vater ihr endlich eine Karte geschickt hatte. Irgendwie fand sie das rührend.
Auf Hildes Karte stand:
Liebes Hildchen! Ich weiß ja weder den Tag noch wie spät es gerade ist in Lillesand. Aber wie gesagt, das spielt keine besonders große Rolle. Wenn ich dich richtig kenne, bin ich nicht zu spät dran mit einem letzten oder auf jeden Fall vorletzten Glückwunsch von hier. Aber du darfst auch nicht zu spät aufstehen! Alberto wird dir bald von der Idee der französischen Aufklärung erzählen. Er konzentriert sich auf sieben Punkte. Die sieben Punkte sind:
1. Aufstand gegen die Autoritäten
2. Rationalismus
3. Der Gedanke der Aufklärung
4. Kulturoptimismus
5. Zurück zur Natur
6. Humanistisches Christentum
7. Menschenrechte
Es war klar, dass der Major sie immer noch im Auge behielt.
Sofie schloss die Haustür auf und legte das Zeugnis mit den vielen Einsern auf den Küchentisch. Dann schlüpfte sie durch die Hecke und lief in den Wald.
Wieder musste sie über den kleinen See rudern. Alberto saß auf der Türschwelle, als sie kam. Er machte ihr ein Zeichen, dass sie sich neben ihn setzen sollte.
Es war gutes Wetter, aber vom kleinen See zog ein scharfer, kühler Luftstrom zu ihnen hoch. Der See schien sich vom Unwetter noch nicht erholt zu haben.
»Wir kommen gleich zur Sache«, sagte Alberto. »Nach Hume war der Deutsche Kant der nächste große Systembauer. Aber auch Frankreich hatte im 18. Jahrhundert viele wichtige Denker. Wir können sagen, dass in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Europas philosophisches Zentrum in England lag, um die Mitte des Jahrhunderts in Frankreich und gegen Ende des Jahrhunderts in Deutschland.«
»Wenn man so will, eine Verschiebung von Westen nach Osten.«
»Genau. Ich werde ziemlich kurz einige Gedanken anführen, die vielen französischen Aufklärungsphilosophen gemeinsam waren. Es geht hier um wichtige Namen wie Montesquieu, Voltaire, Rousseau und viele, viele andere. Ich habe mich auf sieben wichtige Punkte konzentriert.«
»Danke, das ist mir schon schmerzlich bewusst.«
Sofie reichte ihm die Karte von Hildes Vater. Alberto seufzte tief.
»Das hätte er sich sparen können ... Ein erstes Stichwort ist also Aufstand gegen die Autoritäten . Mehrere der französischen Aufklärungsphilosophen hatten England besucht, das in mancher Hinsicht freisinniger war als ihre Heimat. Die englische Naturwissenschaft faszinierte sie, vor allem Newton und seine universale Physik. Aber auch die englischen Philosophen inspirierten sie, vor allem Locke und seine politische Philosophie. Zu Hause in Frankreich zogen sie dann nach und nach gegen alte Autoritäten ins Feld. Sie fanden es wichtig, allen ererbten Wahrheiten gegenüber Skepsis zu zeigen. Sie glaubten, das Individuum müsse selber die Antwort auf alle Fragen finden. Hier wirkte die Tradition von
Weitere Kostenlose Bücher