Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
dort blieb sie stehen, bis ihre Mutter sie zum Essen holte. Als es klopfte, hatte Hilde keine Ahnung, wie lange Mutter schon vor der Tür stand. Aber sie war sicher, ganz sicher, dass das Spiegelbild ihr mit beiden Augen zugezwinkert hatte.
Beim Essen versuchte Hilde, ein dankbares Geburtstagskind zu sein. Aber sie dachte die ganze Zeit an Sofie und Alberto.
Was sollte jetzt aus ihnen werden, wo sie wussten , dass Hildes Vater über alles bestimmte? Obwohl – wussten sie das wirklich? Es war wahrscheinlich Unsinn, anzunehmen, dass sie überhaupt etwas wussten. Schließlich tat Hildes Vater doch nur so, als ob sie etwas wissen könnten. Trotzdem blieb das Problem immer dasselbe: Wenn Sofie und Alberto »wussten«, wie alles zusammenhing, waren sie in gewisser Weise am Ende.
Hilde wäre fast ein großes Stück Kartoffel im Hals stecken geblieben, als ihr aufging, dass dieselbe Problematik vielleicht auch für ihre eigene Welt gelten konnte. Die Menschen waren zweifellos immer weiter gekommen in ihrem Verständnis der Naturgesetze. Aber konnte die Geschichte auch dann noch weitergehen, wenn die letzten Stücke im Puzzlespiel von Philosophie und Wissenschaft ihren Platz gefunden hatten? Oder näherte sich die Geschichte der Menschheit dem Ende? Bestand nicht ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Denkens und der Wissenschaft einerseits und Dingen wie dem Treibhauseffekt und den abgeholzten Regenwäldern andererseits? War es vielleicht doch nicht so dumm den Erkenntnisdrang des Menschen als »Sündenfall« zu bezeichnen?
Die Frage war so wichtig und so erschreckend, dass Hilde versuchte, sie zu vergessen. Außerdem würde sie sicher mehr begreifen, wenn sie erst im Geburtstagsgeschenk ihres Vaters weiterlas.
»Mein Liebchen, was willst du noch mehr?«, sang ihre Mutter, nachdem sie Eis mit italienischen Erdbeeren gegessen hatten. »Jetzt machen wir genau das, worauf du die meiste Lust hast.«
»Ich weiß, das hört sich komisch an, aber am liebsten möchte ich weiter in Papas Geschenk lesen.«
»Du darfst aber nicht zulassen, dass er dich ganz verrückt macht.«
»Nein, nein.«
»Wir könnten eine Pizza auftauen und ›Derrick‹ sehen ...«
»Ja, vielleicht.«
Hilde fiel ein, wie Sofie mit ihrer Mutter geredet hatte. Ihr Vater hatte der anderen Mutter sicher etwas von ihrer angedichtet. Sicherheitshalber beschloss sie, nichts über das weiße Kaninchen zu sagen, das aus dem Zylinder des Universums gezogen wird, jedenfalls nicht gerade heute ...
»Ach, übrigens«, sagte sie im Aufstehen.
»Ja?«
»Ich kann mein Goldkreuz nicht finden.«
Ihre Mutter sah sie geheimnisvoll an.
»Ich habe es vor vielen Wochen unten auf dem Steg gefunden. Du hast es sicher da unten verloren, du Schussel!«
»Hast du das Papa erzählt?«
»Das weiß ich nicht mehr, doch, das habe ich wohl ...«
»Und wo ist es jetzt?«
»Augenblick.«
Die Mutter ging und wenig später hörte Hilde einen verwunderten Ruf aus dem Schlafzimmer. Dann stand die Mutter wieder im Wohnzimmer.
»Weißt du was – im Moment kann ich es nicht finden.«
»Das hab ich mir gedacht.«
Hilde gab ihrer Mutter einen Kuss und lief wieder auf ihr Mansardenzimmer. Endlich – jetzt konnte sie weiter über Sofie und Alberto lesen. Sie legte sich aufs Bett und lehnte den schweren Ordner gegen ihre Knie.
Sofie erwachte morgens, als ihre Mutter ins Zimmer kam. Die Mutter trug ein Tablett voller Geschenke in den Händen. In eine leere Limonadenflasche hatte sie eine Flagge gesteckt.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Sofie!«
Sofie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie versuchte, sich an alles zu erinnern, was gestern passiert war. Aber alles kam ihr vor wie die losen Teile eines Puzzlespiels. Ein Teil war Alberto, ein anderes Hilde und der Major. Eines war Berkeley, ein weiteres Bjerkely. Und das schwärzeste war das schreckliche Unwetter. Sofie hatte fast eine Art Nervenzusammenbruch erlitten. Ihre Mutter hatte sie trockengerieben und nach einer Tasse heißer Milch mit Honig ins Bett gepackt. Sofie war sofort eingeschlafen.
»Ich glaube, ich lebe«, stotterte sie jetzt.
»Ja, natürlich lebst du. Und heute wirst du fünfzehn.«
»Bist du ganz sicher?«
»Ganz sicher, ja. Glaubst du, eine Mutter weiß nicht, wann ihr einziges Kind geboren worden ist? Am 15. Juni 1975, um ... halb zwei, Sofie. Das war bestimmt der allerglücklichste Moment meines Lebens.«
»Bist du sicher, dass nicht alles zusammen nur ein Traum ist?«
»Auf jeden Fall
Weitere Kostenlose Bücher