Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Trotzdem erleben wir gerade während der Französischen Revolution die ersten Beispiele einer Frauenbewegung.«
»Das wurde aber auch Zeit.«
»Schon 1787 veröffentlichte der Aufklärungsphilosoph Condorcet eine Schrift über die Rechte der Frau. Er billigte Frauen dieselben natürlichen Rechte zu wie Männern. Während der Revolution 1789 beteiligten sich Frauen aktiv am Kampf gegen die Adelsherrschaft. Zum Beispiel führten sie die Demonstrationen an, die den König schließlich zwangen, sein Schloss in Versailles zu verlassen. In Paris bildeten sich verschiedene Frauengruppen. Neben denselben politischen Rechten wie Männer forderten sie auch neue Ehegesetze und veränderte Lebensbedingungen für Frauen.«
»Bekamen sie diese Rechte?«
»Nein. Wie auch später so oft, wurde die Frage nach den Frauenrechten in Verbindung mit einer Revolution aufgeworfen. Aber kaum hatte sich alles zu einer neuen Ordnung gefügt, wurde auch schon die alte Männerherrschaft wieder neu zementiert.«
»Typisch.«
»Eine von denen, die sich während der Französischen Revolution am stärksten für die Rechte der Frauen einsetzte, war Olympe de Gouges . 1791 – also zwei Jahre nach der Revolution – veröffentlichte sie eine Erklärung über die Rechte der Frauen. Die Erklärung der Bürgerrechte hatte den natürlichen Rechten der Frauen nicht eben viele Paragraphen gewidmet. Olympe de Gouges verlangte für Frauen genau dieselben Rechte wie für Männer.«
»Und was kam dabei heraus?«
»Sie wurde 1793 hingerichtet. Und den Frauen jegliche politische Aktivität verboten.«
»Pfui Spinne!«
»Erst im 19. Jahrhundert legte die Frauenbewegung richtig los – in Frankreich wie überall sonst in Europa. Und ganz langsam begann dieser Kampf dann auch, Früchte zu tragen. Aber in Norwegen zum Beispiel bekamen die Frauen erst 1913 das Stimmrecht. Und in vielen Ländern kämpfen die Frauen immer noch um Gleichberechtigung.«
»Auf meine Unterstützung können sie zählen.«
Alberto blickte auf den kleinen See. Nach einer Weile sagte er:
»Ich glaube, das war alles, was ich über die Philosophie der Aufklärungszeit sagen wollte.«
»Was meinst du mit ›ich glaube‹?«
»Ich habe nicht das Gefühl, dass noch mehr kommt.«
Während er das sagte, passierte plötzlich etwas auf dem See. Mitten im Weiher schäumte das Wasser vom Grund her auf. Und dann erhob sich etwas Großes und Scheußliches über dem Wasserspiegel.
»Eine Seeschlange!«, rief Sofie.
Das dunkle Geschöpf wand sich mehrmals vor und zurück, dann tauchte es wieder unter und der See lag so still da wie zuvor.
Alberto hatte sich einfach abgewandt.
»Lass uns reingehen«, sagte er.
Und beide standen auf und gingen in die Hütte.
Sofie trat vor die Bilder von Berkeley und Bjerkely. Sie zeigte auf das Bild von Bjerkely und sagte:
»Ich glaube, Hilde wohnt irgendwo in diesem Bild.«
Zwischen den Bildern hing jetzt eine Stickerei: FREIHEIT, GLEICHHEIT, BRÜDERLICHKEIT stand darauf.
Sofie drehte sich zu Alberto um.
»Hast du das da aufgehängt?«
Er schüttelte nur mit einer traurigen Grimasse den Kopf.
Jetzt entdeckte Sofie einen Briefumschlag auf dem Kaminsims. »Für Hilde und Sofie«, stand darauf. Sofie wusste sofort, wer der Absender war. Sie öffnete den Briefumschlag und las laut vor:
Ihr Lieben! Sofies Philosophielehrer hätte noch betonen sollen, wie wichtig die französische Aufklärungsphilosophie für die Ideale und Prinzipien war, auf denen die UNO aufbaut. Vor zweihundert Jahren half das Schlagwort ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹, das französische Bürgertum zusammenzuschweißen. Heute müssen diese Worte die ganze Welt miteinander verbinden. Wie nie zuvor ist heute die Menschheit eine große Familie. Unsere Nachkommen sind unsere eigenen Kinder und Kindeskinder. Was für eine Welt erben sie von uns?
Hildes Mutter rief, weil »Derrick« in zehn Minuten anfing und sie die Pizza in den Ofen geschoben hatte. Hilde fühlte sich vom vielen Lesen völlig erschöpft. Sie war schließlich schon um sechs Uhr aufgestanden.
Sie beschloss, für den Rest des Abends zusammen mit ihrer Mutter Geburtstag zu feiern. Aber zuallererst musste sie im Lexikon nachsehen.
Gouges ... nein. De Gouges? Wieder nein. Olympe de Gouges vielleicht? Nix da! Das Lexikon verlor kein Wort über die Frau, die wegen ihres frauenpolitischen Engagements hingerichtet worden war. War das nicht ein Skandal?
Denn sie war doch wohl nicht nur eine Erfindung von Hildes
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