Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
von der es zu verschiedenen Zeiten einmal mehr und einmal weniger geben konnte. Herder erklärte dagegen, dass jede Epoche der Geschichte ihren ganz eigenen Wert und jedes Volk seine ganz spezielle Eigenart, seine je eigene ›Volksseele‹ habe. Die Frage sei nur, ob und wie wir uns in andere Zeiten und Kulturen hineinversetzen könnten.«
»Genauso, wie wir uns in die Situation eines anderen Menschen versetzen müssen, um ihn besser zu verstehen, müssen wir uns auch in andere Kulturen hineinversetzen, um sie zu verstehen.«
»Heute ist das wohl nahezu selbstverständlich geworden. Aber während der Romantik war das eine neue Erkenntnis. Die Romantik trug dazu bei, das Gefühl der eigenen Identität der einzelnen Nationen zu stärken. Es ist kein Zufall, dass auch bei uns in Norwegen der Kampf um nationale Selbständigkeit gerade 1814 aufblühte.«
»Ich verstehe.«
»Weil die Romantik in so vielen Bereichen eine Neuorientierung mit sich brachte, ist es üblich, zwischen zwei Formen der Romantik zu unterscheiden. Unter Romantik verstehen wir zum einen das, was wir Universalromantik nennen können. Dabei denken wir an die Romantiker, die sich mit der Natur, der Weltseele und dem künstlerischen Genie beschäftigten. Diese Form der Romantik kam zuerst und hatte vor allem in der Stadt Jena um 1800 ihre Blütezeit.«
»Und die andere Form der Romantik?«
»Das war die so genannte Nationalromantik . Sie kam etwas später und hatte ein Zentrum in Heidelberg. Die Nationalromantiker interessierten sich vor allem für die Geschichte des Volkes, seine Sprache und überhaupt für die gesamte ›volkstümliche‹ Kultur. Denn auch das Volk wurde als Organismus betrachtet, der seine ihm innewohnenden Möglichkeiten entfaltet – genau wie die Natur und die Geschichte.«
»Sage mir, wo du lebst, und ich sage dir, wer du bist.«
»Was die beiden Spielarten der Romantik verband, war vor allem das Stichwort ›Organismus‹. Die Romantiker insgesamt betrachteten sowohl eine Pflanze als auch ein Volk, ja, sogar ein Werk der Dichtkunst als lebendigen Organismus. Deshalb gibt es auch keine scharfe Grenze zwischen den beiden Spielarten. Der Weltgeist war im Volk und in der Volkskultur ebenso anwesend wie in Natur und Kunst.«
»Ich verstehe.«
»Schon Herder hatte Volkslieder aus vielen Ländern gesammelt und er gab seiner Sammlung den viel sagenden Titel ›Stimmen der Völker in Liedern‹. Er bezeichnete die Volksdichtung sogar als ›Muttersprache der Völker‹. In Heidelberg fing man nun an, Volkslieder und Volksmärchen zu sammeln. Du hast vielleicht von den Märchen der Brüder Grimm gehört?«
»Aber sicher – ›Schneewittchen‹ und ›Rotkäppchen‹, ›Aschenputtel‹ und ›Hänsel und Gretel‹...«
»Und viele, viele andere. In Norwegen hatten wir Asbjørnsen und Moe , die durch das Land reisten, um die ›Dichtung des Volkes‹ zu sammeln. Es war wie die Ernte einer saftigen Frucht, von der man urplötzlich erkannt hat, dass sie lecker und nahrhaft ist. Und es eilte – die Frucht fiel schon von den Bäumen. Landstad sammelte Volkslieder und Ivar Aasen sozusagen die norwegische Sprache selber. Auch die Mythen und Götterdichtungen aus heidnischer Zeit wurden um die Mitte des 19. Jahrhunderts neu entdeckt. Und Komponisten in ganz Europa verwendeten nun Volkslieder in ihren Kompositionen. So versuchten sie, eine Brücke zwischen Kunstmusik und Volksmusik zu bauen.«
»Kunstmusik?«
»Unter Kunstmusik verstehen wir Musik, die von einem bestimmten Menschen komponiert ist – von Beethoven zum Beispiel. Die Volksmusik war ja von keiner bestimmten Person geschaffen worden, sondern gewissermaßen vom Volk selber. Deshalb wissen wir auch nicht genau, wann die einzelnen Volkslieder entstanden sind. Auf dieselbe Weise unterscheiden wir Volksmärchen und Kunstmärchen.«
»Was verstehen wir unter einem Kunstmärchen?«
»Ein Märchen, das ein Schriftsteller sich ausgedacht hat, zum Beispiel Hans Christian Andersen . Gerade das Märchengenre wurde von den Romantikern mit großer Leidenschaft gepflegt. Einer der deutschen Meister war E.T.A. Hoffmann .«
»Ich glaube, ich habe von ›Hoffmanns Erzählungen‹ gehört.«
»Das Märchen war das literarische Ideal der Romantiker – ungefähr wie das Theater die Kunstform des Barock war. Es gab dem Dichter die Möglichkeit, mit seiner eigenen Schöpferkraft zu spielen.«
»Er konnte für eine erdichtete Welt den lieben Gott spielen.«
»Genau. Und jetzt wäre
Weitere Kostenlose Bücher