Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
vielleicht eine Art Zusammenfassung angebracht.«
»Bitte sehr.«
»Die Philosophen der Romantik fassten das, was sie die ›Weltseele‹ nannten, als ein ›Ich‹ auf, das in einem mehr oder weniger traumhaften Zustand die Dinge auf der Welt schafft. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte erklärte, die Natur stamme aus einer höheren, unbewussten Vorstellungstätigkeit. Schelling sagte geradeheraus, dass die Welt ›in Gott‹ sei. Etwas sei Gott bewusst, meinte er, aber es gebe auch Seiten in der Natur, die das Unbewusste in Gott darstellten. Denn auch Gott habe eine ›Nachtseite‹.«
»Dieser Gedanke ist erschreckend und faszinierend zugleich. Er erinnert mich an Berkeley.«
»Ungefähr genauso wurde das Verhältnis zwischen dem Dichter und seinem Werk aufgefasst. Das Märchen gab dem Dichter die Möglichkeit, mit seiner weltenschaffenden Einbildungskraft zu spielen. Und der Schöpfungsakt geschah nicht immer sehr bewusst. Der Dichter konnte das Gefühl haben, dass die Geschichte, die er schrieb, aus einer ihm innewohnenden Kraft heraus entstand. Er konnte fast wie unter Hypnose schreiben.«
»Ach?«
»Aber dann konnte er auch plötzlich die Illusion brechen. Er konnte durch kleine ironische Kommentare für den Leser in die Erzählung eingreifen und dann wurde der Leser kurz daran erinnert, dass das Märchen eben doch ein Märchen war.«
»Ich verstehe.«
»Auf diese Weise konnte der Dichter den Leser außerdem daran erinnern, dass auch sein eigenes Dasein märchenhaft war. Diese Form des Illusionsbruchs bezeichnen wir gern als romantische Ironie . Der norwegische Dichter Hendrik Ibsen lässt zum Beispiel eine der Personen in seinem Theaterstück ›Peer Gynt‹ sagen: ›Man stirbt doch nicht mitten im fünften Akt.‹«
»Ich glaube, ich verstehe, dass diese Replik ein bisschen komisch ist. Denn damit sagt er ja gleichzeitig, dass es nur Phantasie ist.«
»Dieser Ausspruch ist so paradox, dass wir damit einen Abschnitt enden lassen sollten.«
»Wie hast du das mit dem Abschnitt gemeint?«
»Ach, nichts, Sofie. Erinnerst du dich, dass Novalis’ Geliebte wie du Sophie hieß und außerdem mit fünfzehn Jahren und vier Tagen gestorben ist ...«
»Dann verstehst du doch sicher, dass ich Angst bekommen habe.«
Jetzt verhärtete sich Albertos Blick. Er fuhr fort:
» Du brauchst keine Angst davor zu haben, dass dir dasselbe Schicksal bevorstehen könnte wie Novalis’ Liebster.«
»Warum nicht?«
»Weil noch viele Kapitel ausstehen.«
»Was sagst du da?«
»Ich sage, dass alle, die die Geschichte von Sofie und Alberto lesen, in ihren Fingerspitzen fühlen, dass noch viele Seiten der Geschichte ausstehen. Wir sind doch erst bis zur Romantik gekommen.«
»Mir wird richtig schwindlig von deinem Gerede.«
»In Wirklichkeit versucht der Major, Hilde schwindlig werden zu lassen. Ist das nicht gemein, Sofie? Abschnitt!«
Alberto hatte seinen Satz noch nicht beendet, als ein Junge aus dem Wald gelaufen kam. Er trug arabische Kleider und einen Turban. In der Hand hielt er eine Öllampe.
Sofie packte Albertos Arm.
»Wer ist das?«, fragte sie.
Aber der Junge antwortete selber.
»Ich heiße Aladin und komme aus dem Libanon.«
Alberto musterte ihn streng.
»Und was hast du in deiner Lampe, Junge?«
Nun rieb der Junge an der Lampe – und aus der Lampe stieg dichter Qualm auf. Aus dem Qualm wuchs eine Männergestalt. Sie hatte einen schwarzen Bart wie Alberto und trug eine blaue Baskenmütze. Sie schwebte in der Luft über der Lampe und sagte:
»Hörst du mich, Hilde? Mit meinen neuen Glückwünschen komme ich wohl zu spät. Und jetzt will ich nur sagen, dass Bjerkely und Südnorwegen mir fast wie ein Märchen vorkommen. Wir sehen uns dort in wenigen Tagen.«
Die Männergestalt verschwand wieder im Qualm – und die ganze Wolke wurde in die Öllampe gesaugt. Der Junge mit dem Turban klemmte sich die Lampe unter den Arm, rannte wieder in den Wald und war verschwunden.
»Das ... das ist einfach unglaublich«, sagte Sofie.
»Eine Bagatelle, mein Kind.«
»Der Geist hat sich genauso angehört wie Hildes Vater.«
»Es war doch auch sein Geist ...«
»Aber ...«
»Du und ich und was um uns herum geschieht – all das spielt sich tief im Bewusstsein des Majors ab. Es ist spät in der Nacht am Samstag, dem 28. April; rings um den wachenden Major schlafen alle UN-Soldaten und auch er ist schon sehr schläfrig. Aber er muss das Buch fertig schreiben, das er Hilde zum 15. Geburtstag schenken will.
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