Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Streichs.
Sie ging zum Fenster und blickte auf die Bucht hinaus. Es war fast zwei Uhr. Jetzt öffnete sie das Fenster und rief zum Bootshaus hinüber:
»Mama!«
Kurz darauf kam ihre Mutter heraus.
»Ich bring dir in einer Stunde ein paar Brote. Ist das in Ordnung?«
»Ja, sicher.«
»Ich muss nur erst noch schnell was über Hegel lesen.«
Alberto und Sofie setzten sich in die Sessel vor dem Fenster, das auf den kleinen See blickte.
» Georg Wilhelm Friedrich Hegel war ein echtes Kind der Romantik«, fing Alberto an. »Du kannst fast sagen, dass er der Entwicklung des deutschen Geistes getreu folgte. Er wurde 1770 in Stuttgart geboren und fing mit achtzehn Jahren in Tübingen ein Theologiestudium an. Ab 1799 arbeitete er mit Schelling in Jena zusammen, wo die romantische Bewegung gerade ihre explosive Blütezeit erlebte. Nachdem er in Jena Dozent gewesen war, bekam er eine Professur in Heidelberg – dem Zentrum der deutschen Nationalromantik. Schließlich wurde er 1818 Professor in Berlin – genau zu der Zeit, als diese Stadt ein geistiger Mittelpunkt Europas zu werden begann. Im Novemer 1831 starb er an der Cholera, aber nun hatte der ›Hegelianismus‹ an fast allen deutschen Universitäten schon Scharen von Anhängern.«
»Er hat also das meiste mitgenommen.«
»Ja, und das gilt auch für seine Philosophie. Hegel vereinigte darin fast alle Gedanken, die sich bei den Romantikern entwickelt hatten, und führte sie weiter. Aber er war auch ein scharfer Kritiker zum Beispiel der Philosophie Schellings.«
»Was hat er daran kritisiert?«
»Schelling und die anderen Romantiker hatten den tiefsten Grund des Daseins im so genannten Weltgeist gesehen. Auch Hegel verwendet den Begriff ›Weltgeist‹, gibt ihm aber eine neue Bedeutung. Wenn Hegel von Weltgeist oder ›Weltvernunft‹ spricht, dann meint er die Summe aller menschlichen Äußerungen. Denn nur der Mensch hat Geist. In dieser Bedeutung kann er auch vom Gang des Weltgeistes durch die Geschichte sprechen. Wir dürfen nicht vergessen, dass er vom Leben der Menschen, von den Gedanken der Menschen und von der Kultur der Menschen spricht.«
»Und dann ist dieser Geist gleich weniger gespenstisch. Er liegt nicht mehr als schlummernde Intelligenz in Steinen und Bäumen auf der Lauer.«
»Und du weißt noch, dass Kant vom ›Ding an sich‹ gesprochen hatte. Obwohl er bestritt, dass die Menschen eine klare Erkenntnis des innersten Geheimnisses der Natur haben können, wies er doch auf eine Art unerreichbare Wahrheit hin. Hegel meinte nun, dass die Wahrheit grundsätzlich subjektiv sei – und bestritt, dass es über oder außerhalb der menschlichen Vernunft noch eine Wahrheit geben kann. Alle Erkenntnis ist menschliche Erkenntnis, meinte er.«
»Er musste die Philosophie gewissermaßen wieder auf den Erdboden holen?«
»Ja, vielleicht kannst du das so sagen. Nun ist Hegels Philosophie so vielfältig und nuanciert, dass wir uns hier und jetzt damit begnügen müssen, einige der wichtigsten Punkte zur Sprache zu bringen. Es ist fast zweifelhaft, ob wir überhaupt sagen können, dass Hegel eine eigene Philosophie hatte. Was wir als Hegels Philosophie bezeichnen, ist vor allem eine Methode , um den Lauf der Geschichte zu begreifen. Deshalb können wir von Hegel fast nicht sprechen, ohne den Gang der Geschichte zu erwähnen. Hegels Philosophie lehrt uns eigentlich nichts über die ›innerste Natur des Daseins‹, aber sie kann uns beibringen, auf fruchtbare Weise zu denken.«
»Und das ist vielleicht auch sehr wichtig.«
»Alle philosophischen Systeme vor Hegel hatten versucht, ewige Kriterien dafür aufzustellen, was der Mensch über die Welt wissen kann. Das galt für Descartes und Spinoza, für Hume und Kant. Jeder von ihnen wollte untersuchen, was die Grundlage aller menschlichen Erkenntnis ist. Aber sie hatten allesamt über zeitlose Voraussetzungen für das Wissen der Menschen über die Welt gesprochen.«
»Ist das denn nicht die Pflicht des Philosophen?«
»Hegel hielt es für unmöglich, solche zeitlosen Voraussetzungen zu finden. Er meinte, dass sich die Grundlagen der menschlichen Erkenntnis von Generation zu Generation ändern. Deshalb gibt es ihm zufolge auch keine ›ewigen Wahrheiten‹. Es gibt keine zeitlose Vernunft. Der einzige feste Punkt, bei dem ein Philosoph ansetzen kann, ist die Geschichte selber.«
»Nein, das musst du erklären. Die Geschichte verändert sich doch dauernd, wie kann sie da ein fester Punkt sein?«
»Auch ein
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