Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
mitten in einer solchen Diskussion stecken, ist es leider nicht immer leicht festzustellen, was das Vernünftigste ist. Was richtig ist und was falsch, muss deshalb im Grunde die Geschichte zeigen. Nur was vernünftig ist, meint Hegel, ist lebensfähig.«
»Das heißt, was weiterlebt, hat Recht?«
»Oder umgekehrt: Was richtig ist, lebt weiter.«
»Du hast nicht vielleicht ein kleines Beispiel, das klingt alles so abstrakt?«
»Vor hundertfünfzig Jahren kämpften viele für die Gleichberechtigung der Frauen. Viele kämpften auch verbissen dagegen. Wenn wir uns heute die Argumente beider Seiten vornehmen, ist nicht schwer zu erkennen, welches die vernünftigeren waren. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir im Nachhinein immer schlauer sind. Es hat sich gezeigt, dass diejenigen, die für die Gleichberechtigung kämpften, Recht hatten. Viele Menschen würden sich sicher schämen, wenn sie lesen müssten, was ihr Großvater zu diesem Thema von sich gegeben hat.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Was meinte Hegel selber?«
»Über die Gleichberechtigung?«
»Ja. Oder reden wir besser nicht darüber?«
»Möchtest du ein Zitat hören?«
»Gerne.«
»›Der Unterschied zwischen Mann und Frau ist der des Tieres und der Pflanze‹, schrieb er. ›Das Tier entspricht mehr dem Charakter des Mannes, die Pflanze mehr dem der Frau, denn sie ist mehr ruhiges Entfalten, das die unbestimmtere Einzigkeit der Empfindung zu seinem Prinzipe erhält. Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, so ist der Staat in Gefahr, denn sie handeln nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sondern nach zufälliger Neigung und Meinung. Die Bildung der Frauen geschieht, man weiß nicht, wie, gleichsam durch die Atmosphäre der Vorstellung, mehr durch das Leben, als durch das Erwerben von Kenntnissen. Während der Mann seine Stellung nur durch die Errungenschaft der Gedanken und durch viele technische Bemühungen erlangt.‹«
»Danke, das reicht. Ich will lieber keine solchen Zitate mehr hören.«
»Aber das Zitat ist ein glänzendes Beispiel dafür, dass unsere Vorstellung davon, was ›vernünftig‹ ist, sich dauernd ändert. Es zeigt, dass auch Hegel ein Kind seiner Zeit war – genau wie wir. Auch vieles, was uns heute ›selbstverständlich‹ erscheint, wird den Test der Geschichte nicht bestehen.«
»Hast du ein Beispiel?«
»Nein, ich habe keins.«
»Warum nicht?«
»Weil ich dann nur von etwas sprechen könnte, das schon in Veränderung begriffen ist. Ich könnte zum Beispiel nicht anführen, dass Autofahren einmal als etwas entsetzlich Dummes gelten wird, weil es die Natur zerstört. Das meinen ja heute schon viele. Also wäre es ein schlechtes Beispiel. Die Geschichte wird aber zeigen, dass auch vieles von dem, was wir jetzt noch alle für selbstverständlich halten, den Test nicht bestehen wird.«
»Ich verstehe.«
»Und wir können uns noch etwas merken: Dadurch dass die Männer zu Hegels Zeiten solche krassen Sprüche über die Minderwertigkeit der Frau von sich gaben, schoben sie die Frauenbewegung nur noch mehr an.«
»Wie denn das?«
»Die Männer trugen, wie Hegel gesagt hätte, eine These vor. Der Grund dafür, dass sie das überhaupt für nötig hielten, war natürlich, dass die Frauen schon angefangen hatten, sich zu erheben. Es ist ja nicht nötig, eine so entschiedene Meinung über etwas zu haben, worüber sich alle einig sind. Je krasser sie aber nun die Frauen diskriminierten, desto stärker wurde auch die Antithese oder Negation.«
»Ich glaube, ich verstehe.«
»Du kannst also sagen, dass energische Widersacher das Beste sind, was einer Idee passieren kann. Je energischer, desto besser, denn um so stärker wird die Negation der Negation sein. Nicht umsonst gibt es die Redensart vom ›Wasser auf die Mühlen gießen‹.«
»Gerade jetzt hatte ich das Gefühl, dass meine Mühle sich sehr heftig in Bewegung setzt.«
»Auch rein logisch oder philosophisch gibt es oft eine dialektische Spannung zwischen zwei Begriffen.«
»Beispiele bitte!«
»Wenn ich über den Begriff ›Sein‹ nachdenke, dann muss ich unweigerlich auch den entgegengesetzten Begriff ›Nichtsein‹ einführen. Es ist unmöglich, darüber zu reflektieren, dass man ist, ohne sich im nächsten Moment auch daran zu erinnern, dass man nicht immer sein wird. Die Spannung zwischen ›Sein‹ und ›Nichtsein‹ wird nun in dem Begriff ›Werden‹ aufgelöst. Denn dass etwas wird, bedeutet gewissermaßen, dass es ist und doch
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